Energie am Wendepunkt

Grüner, flexibler und effizienter soll die Energiewelt der Zukunft aussehen. Das disruptive Potenzial der Energiewende gilt daher als groß. Sicher ist lediglich, dass Strom noch eine ganze Weile durch Leitungen fließen wird…

Elektrisches Zeitalter
Die Klimakonferenz von Paris hat das Ziel einer weitgehenden Treibhausgasneutralität festgeschrieben. Den Weg zu diesem Ziel will die Bundesregierung in ihrem Klimaschutzplan 2050 beschreiben, denn Industrieländer wie Deutschland müssen dafür den CO2-Ausstoß in den kommenden 30 Jahren drastisch senken. Die gesamte Energieversorgung soll dekarbonisiert werden, der Energiemix ohne fossile Energieträger auskommen. Benzin- und Dieselautos gelten übrigens auch als Teil der fossilen Infrastruktur. Der direkte Ersatz fossiler durch erneuerbare Energien – Öko- statt Kohlestrom, Solar- und Geothermie statt Öl und Gas, Biokraftstoffe statt Mineralöl – hat allerdings Grenzen, beispielsweise bei der Verfügbarkeit von Biokraftstoffen. Strom aus erneuerbaren Quellen wird daher zum wichtigsten Instrument der Dekarbonisierung. Das bedeutet, dass am Ausbau der Wind- und Solarenergie kein Weg vorbei führt. Und das bedeutet auch, dass zur Jahrhundertmitte nicht nur Strom überwiegend mit Wind oder Sonne erzeugt werden soll, sondern auch Wärme und Mobilität: der Beginn eines elektrischen Zeitalters.

Dezentralisierung
Stromkunden der Zukunft werden anders agieren als Stromkunden von heute. Sie werden ihre elektrische Energie in zunehmendem Maße selbst produzieren, sie für die eigene Nutzung speichern oder weiterverkaufen, für die Stromheizung oder das Elektroauto verwenden. Möglich machen das Erzeugungs- und Speichertechnologien, die in den vergangenen Jahren sowohl billiger als auch leistungsfähiger geworden sind, sowie bessere Steuerungs- und Vernetzungsmöglichkeiten. Dezentrale Lösungen rücken die Bedürfnisse und die Möglichkeiten der Kunden in den Vordergrund – egal ob Haushalt, Gewerbe oder Industrie. Gefragt sind daher Bottom-Up-Ansätze statt der bisherigen Top-Down-Strategie. Außerdem verschwimmen die Grenzen zwischen Verbrauchern, Speichern und Erzeugern, diese können einzeln agieren oder aber sich zu virtuellen Kraftwerken und in regionalen Netzen zusammenschließen. Neben den großen Energieversorgern drängen daher immer neue Akteure aus unterschiedlichsten Branchen und Sektoren in die Schnittstellen der Wertschöpfungsstufen. Das macht es – nicht nur für die bisherigen Platzhirsche – komplizierter, die ökonomischen Perspektiven von Geschäftsmodellen zu prognostizieren, schafft aber auch Raum für neue Ansätze.

Internet der Energie
Das Stromnetz ist keine Einbahnstraße mehr, über die Strom aus einigen wenigen Großkraftwerken in die Regionen übertragen und dort an die Verbraucher verteilt wird. Inzwischen werden Energiemengen aus großen wie aus vielen kleinen Erzeugungsanlagen in Millisekunden über automatische Signale hin und her geschoben, regional wie europaweit. Dank eines intelligenten Zusammenspiels von Erzeugung und Verbrauch bleibt die Versorgung gesichert. Entscheidend ist dabei die digitale Vernetzung aller Teile des Energiesystems, ein Internet der Energie: Erzeugungsanlagen, Netzkomponenten, Verbrauchsgeräte und Stromkunden können so untereinander Informationen austauschen, ihre Prozesse aufeinander abstimmen und optimieren. Smart Homes und Smart Metering, Energiemanagement und Industrie 4.0 ermöglichen es Privatkunden und Unternehmen, ihren Energieverbrauch zu reduzieren oder zeitlich so zu planen, dass Lastspitzen und Engpasssituationen vermieden werden. Das stabilisiert nicht nur die Netze, sondern kann Geld sparen. Allein 2015 verbrannte die mangelnde Synchronisierung von Stromnetz und erneuerbaren Energien über eine Milliarde Euro. Und: Werden 50.000 der 500.000 deutschen Ortsnetze intelligent, macht das 20 Prozent des Netzausbaus überflüssig.

Sektorkopplung
Die Gestehungskosten für erneuerbaren Strom sinken immer weiter. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht sinnvoll, den weiteren Ausbau auszubremsen. Umso sinnvoller ist eine Verknüpfung zwischen Strom-, Wärme- und Mobilitätssektor: um den erneuerbaren Strom vor Ort und damit ohne Belastung der Netze verbrauchen zu können sowie um den fossilen Anteil am Gesamtenergiebedarf zu senken. Denn bei der Energiewende geht es nicht länger vorrangig um den Ausbau der Erneuerbaren im Stromsektor, sondern um den Umbau des gesamten Energiesystems. Der Energiebedarf ist in allen drei Sektoren hoch: Bei Strom beträgt er rund 600 Terawattstunden im Jahr, bei Wärme je nach Schätzung 400 bis 550 Terawattstunden und beim Verkehr 400 bis 900 Terawattstunden. Im Gebäudebereich werden die Grenzen zwischen Strom und Wärme bereits fließend: Überschüssiger Strom kann Heiz- und Trinkwasser wärmen oder eine Wärmepumpe antreiben, überschüssige Wärme die Haustechnik entlasten. Als naheliegend gilt auch der Einsatz von Wind- oder Solarstrom für die Elektromobilität: Nur mit Ökostrom kann der Verkehrssektor klimapolitisch die Kurve bekommen, gleichzeitig können Elektrofahrzeuge und eine flächendeckende Ladeinfrastruktur als Pufferspeicher für erneuerbaren Strom dienen.

Energieeffizienz
Energieeffizienz gilt als schlafender Riese der Energiewende. Denn eine möglichst effiziente Nutzung der zur Verfügung stehenden Energieträger senkt nicht nur die Nachfrage nach und damit die Kosten für die notwendige Energieversorgung. Sie soll gleichzeitig die Versorgungssicherheit verbessern, die Importabhängigkeit reduzieren, die Reichweite nicht erneuerbarer Energieträger vergrößern und die Klimabilanz verbessern. Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, soll bis 2020 der Primärenergieverbrauch im Vergleich zu 2008 um 20 Prozent und bis 2050 um 50 Prozent sinken. Energieeffizienz ist jedoch mehr als eine möglichst große Produktivität je eingesetzter Kilowattstunde Strom. Es geht auch um umweltfreundliche Erzeugung und zielgerichtete Nutzung, also darum, die vielen Teile der Energiewelt sinnvoll und sektorübergreifend miteinander zu verbinden und flexibel aufeinander abzustimmen. Nur so lassen sich Energieflüsse abbilden und derart steuern, dass Effizienzpotenziale nicht nur sichtbar werden, sondern sich auch heben lassen. Bedarfsprognosen und Lastprofile sind wichtige Schlüssel zur Steuerung von Anlagen und Abläufen in Haushalten und Unternehmen, Energiespeicher sorgen für zusätzliche Flexibilität und sichern den gewohnten Komfort.