Nur der Sündenbock

Viele deutsche Energieversorger schieben die Schuld an den jüngsten Strompreiserhöhungen den Erneuerbaren in die Schuhe, allen voran der Photovoltaik. Zu Unrecht, wie ein Blick auf die Zahlen zeigt…

Seine Stromkunden sieht Johannes Teyssen nicht als „Kapitalsammelstelle“, sondern als „Partner, wo wir nur mit fairen Produkten und fairen Preisen antreten können“. Das verkündete der Eon-Vorstandschef Mitte November bei der jüngsten Bilanzpressekonferenz. Und erklärte bei dieser Gelegenheit auch, wie diese fairen Preise entstehen: „Unsere Preispolitik hängt nicht von unseren Kosten ab, sie hängt ausschließlich vom Wettbewerb ab.“ Die Kosten seien nicht mehr als „ein hilfreicher Hinweis“.

Bei den meisten deutschen Stromkunden dürfte diese Position für Verwunderung sorgen. Denn in den Briefen, die etwa zur gleichen Zeit von den jeweiligen Stromversorgern in die Haushalte flatterten, war sehr wenig von Wettbewerb und sehr viel von Kosten die Rede – von den Kosten, die die Erneuerbaren verursachen, vor allem die Einspeisevergütung für die im Jahr 2010 stark gewachsene Photovoltaik. „Der Anteil aus umweltfreundlich erzeugtem Strom (zum Beispiel aus Wind und Sonne) nimmt weiter zu. Diese erneuerbaren Energien werden durch eine gesetzliche Umlage finanziell gefördert, die alle Stromkunden über ihren Energieversorger tragen. Die dadurch gestiegenen Kosten sind der wesentliche Grund, warum wir unsere Preise im kommenden Jahr leider nicht stabil halten können und eine Preisanpassung erforderlich ist“, hieß es beispielsweise bei Vattenfall. Ähnlich rechtfertigten über 400 der bundesweit rund 900 Versorger die neuen – höheren – Preise.

Das Rauschen im Blätterwald war beträchtlich. Von den Erneuerbaren als Preistreiber war ebenso die Rede wie von dem Hartz-IV-Empfänger, der über höhere Stromkosten die Photovoltaikanlage auf dem Dach seines Zahnarztes finanziere. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Kosten von Strom – Gewinne der Versorger, Steinkohlesubventionen, Fördermittel für die Atomindustrie – erscheint der Punkt EEG-Umlage offen auf jeder Stromrechnung. „Ökoenergie treibt Strompreis in die Höhe“, titelte beispielsweise die Süddeutsche Zeitung – prangerte allerdings kurz darauf „Die große Stromlüge“ an. Denn die Bundesnetzagentur hatte sich mit einem korrigierenden Zwischenruf zu Wort gemeldet: Die Strompreiserhöhungen mit der Steigerung der EEG-Umlage zu begründen, sei „sachlich nicht gerechtfertigt“, teilte Matthias Kurth mit. Kühlen Rechnern war das schon vor der Einlassung des Präsidenten der Bundesnetzagentur klar. Allerdings sind die Zusammenhänge komplex – und damit wenig massenmedientauglich angesichts einer aufgeheizten Diskussion um die Förderung der Erneuerbaren, die 2011 wegen der anstehenden EEG-Novelle noch hitziger werden wird. Dabei könnte ein Blick auf alle Zahlen hinter dem Strompreis Ruhe in die Preisdebatte bringen.

Oberflächlich betrachtet ist die Erhöhung der Strompreise nachvollziehbar, schließlich steigt die EEG-Umlage tatsächlich. Ein Weiterreichen dieses Anstiegs zuzüglich Mehrwertsteuer würde bei den Strompreisen etwa ein Plus von sieben bis acht Prozent ausmachen – und im Schnitt liegen, wie das Preisportal Verivox ausgerechnet hat, die angekündigten Steigerungen tatsächlich bei sieben Prozent. Aber eben nur im Schnitt: EnBW beispielsweise erhöht seinen Online-Tarif um zwölf Prozent, Vattenfall verlangt in Berlin und Hamburg rund zehn Prozent mehr. Und rund 90 Anbieter gehen um acht oder mehr Prozent nach oben, während andere wie beispielsweise RWE nur einen Teil der gestiegenen Umlage auf den Preis aufschlagen – oder auch nichts. Von einem reinen Weiterreichen der Kosten kann also keine Rede sein.

Noch hanebüchener wird das Kostenargument angesichts der anderen Bestandteile, aus denen sich der Strompreis für Privathaushalte zusammensetzt. Neben der EEG-Umlage sind das die KWK-Umlage, die Konzessionsabgabe, die Stromsteuer, das Netzentgelt, die Kosten für Erzeugung und Vertrieb sowie schließlich die Mehrwertsteuer. Einige dieser Bestandteile sind eher unspekta kulär: Die KWK-Umlage, die den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung fördert, sinkt ab Januar 2011 von 0,13 auf 0,03 Cent je Kilowattstunde. Die Konzessionsabgabe, die die Energieversorgungsunternehmen (EVU) den Kommunen für die Einräumung von Wegerechten zahlen müssen, ist stabil und liegt je nach Einwohnerzahl zwischen 1,32 und 2,39 Cent. Und die Stromsteuer, auch Ökosteuer genannt, die unter anderem die Rentenbeiträge stabil halten soll, beträgt gleichbleibend 2,05 Cent je Kilowattstunde.

Schon spannender wird es bei den Netzentgelten. Die sind zwischen 2006 und 2010 um 20 Prozent gesunken, im Schnitt von 7,3 auf 5,81 Cent. Das liegt daran, dass die Stromversorger seit 2010 endlich alle Kosten den Bereichen zuordnen, in denen sie auch entstehen – ein laut Bundesnetzagentur inzwischen sachgerechter Ansatz. Die neue Systematik sorgt allerdings in anderen Bereichen für höhere Preise. Die Kosten für Ausgleichs- und Regelenergie beispielsweise wurden vor 2010 noch als EEG-Veredelungskosten in den Netzentgelten berücksichtigt, jetzt stecken sie – nach Berechnungen der Bundesnetzagentur etwa in Höhe von 0,2 Cent je Kilowattstunde – in der EEG-Umlage. Und auch einige Ausgaben für den Vertrieb bei Haushaltskunden wurden aus den Netzentgelten hinaus- und in die Vertriebskosten eingerechnet; diese stiegen daher im Schnitt von 0,18 Cent je Kilowattstunde im Jahr 2006 auf 1,76 Cent im Jahr 2010. In den Vertriebskosten werden alle Kosten erfasst, die der Energieversorger im Rahmen der Strombelieferung erbringt, darunter fallen zum Beispiel Kundenservice, Rechnungswesen, Verwaltung. Der Vertrieb wird dem unternehmerischen Teil des Strompreises zugerechnet, was in erster Linie bedeutet, dass seine inhaltliche und preisliche Gestaltung der berühmten unternehmerischen Freiheit unterliegt – dem Gegenteil von Transparenz.

Das gilt auch für den Löwenanteil des Strompreises: die Beschaffung von Elektrizität. Eon beispielsweise hielt sich bei der jüngsten Bilanzpressekonferenz trotz konkreter Nachfragen bedeckt, „sonst sind wir für unsere Konkurrenten völlig ausrechenbar“, wie Vorstandschef Teyssen sagte. Ähnlich sind die Erfahrungen des Bundesumweltministeriums: „Da jeder Stromlieferant individuelle Beschaffungskonditionen hat und seine Einkaufspreise ein zentrales Unternehmensgeheimnis darstellen, sind diese nicht öffentlich zugänglich.“ Aber es gibt mehrere Indizien dafür, dass die Energieversorger mit dem seit Jahren stetig steigenden Strompreis-Baustein für Beschaffung von Elektrizität vor allem eines finanzieren und mangels anderer Stellschrauben auch in Zukunft finanzieren wollen: ihre Gewinne.

Erstes Indiz: Den Unternehmen geht es alles andere als schlecht. In den ersten neun Monaten des Jahres 2010 konnten beispielsweise alle vier Energieriesen bereits ordentliche Gewinne vorweisen, auch wenn im Bereich Strom die Renditen leicht sinken: EnBW verbuchte 1,9 Milliarden, RWE 6,1 Milliarden, Eon acht Milliarden und Vattenfall umgerechnet 2,6 Milliarden Euro. Und bei Aktienbesitzern gelten Papiere von Versorgern nicht von ungefähr seit Jahren als attraktiv beziehungsweise dividendenstark.

Zweites Indiz: Die Kosten für die Stromerzeugung und -beschaffung sind gesunken. Zum einen hat die im Zuge der Wirtschaftskrise vergleichsweise geringe Nachfrage sowohl die Preise für Brennstoffe wie Kohle, Gas und Uran als auch für Strom im Großhandel gedämpft. Und zum anderen haben zusätzlich die Erneuerbaren selbst zu niedrigeren Großhandelspreisen beigetragen. Grund ist der sogenannte Merit-Order-Effekt, den ein Diskussionspapier des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) schon 2006 als strompreissenkend beschreibt. Seitdem fällt der Effekt aber zumindest in der öffentlichen Diskussion regelmäßig unter den Tisch.

Das Prinzip: Produzenten bieten ihren Strom an der Leipziger Strombörse EEX in der Regel zu den variablen Kosten der Herstellung an, zu denen in erster Linie die Kosten für die eingesetzten Brennstoffe und eventuell für die Emissionszertifikate gehören – bei Erneuerbaren wie Sonne, Wind und Wasser liegen diese Kosten bei null. Die Börse sortiert den gesamten angebotenen Strom, beginnend mit dem günstigsten Angebot. Den Zuschlag erhalten dann der Reihe nach alle Anbieter, deren Strom zur Deckung der Nachfrage benötigt wird. Und den Preis für die gesamte verkaufte Strommenge bestimmt das letzte – und damit das teuerste – dafür notwendige Kraftwerk.

Je mehr Strom aus erneuerbaren Quellen an die Börse kommt, umso mehr gehen daher besonders teure – und ohne den Strom der Erneuerbaren marktpreisbestimmende – Kraftwerke leer aus und umso stärker sinkt der sogenannte Markträumungspreis. Das Bundesumweltministerium kam bereits 2007 zu dem Ergebnis, dass die Strompreise für Haushalte nur deswegen nicht gesunken sind, weil die Versorger diesen Preisvorteil an der Börse nicht weitergegeben haben. Und für 2011 kommt die Bundesnetzagentur zu einem ähnlichen Schluss: Nach Berechnungen der Behörde müsste der Anteil der Beschaffungskosten am Strompreis mindestens einen halben Cent pro Kilowattstunde sinken – aber angesichts von stärker als die EEG-Umlage steigenden Haushaltsstrompreisen deutet nichts darauf hin, dass davon die privaten Stromkunden profitieren. Anders sieht es bei Gewerbe- und Industriekunden aus: An sie haben die Versorger die niedrigeren Beschaffungspreise weitergegeben.

Drittes Indiz: Nicht nur Verbraucherschützer, sondern auch viele Experten vermuten, dass beim Großhandel von Strom und Gas nicht alles mit rechten Dingen zugeht. EU-Energiekommissar Günther Oettinger will daher diesen Großhandel – wenn EU-Parlament und EU-Ministerrat mitspielen ab 2012 – europaweit einer unabhängigen Kontrolle unterwerfen, ein entsprechendes Konzept stellte er Mitte Dezember in Brüssel vor. „Marktmissbrauch in einem Mitgliedstaat wirkt sich häufig auf die Preise in einem anderen Mitgliedstaat aus“, so Oettinger. Deshalb seien Regeln auf EU-Ebene nötig. In Deutschland laufen 94 Prozent des deutschen Energiehandels über Zwischenhändler im Ausland; das öffne Türen für schwer aufzudeckenden Marktmissbrauch über Grenzen hinweg – der durch solche Praktiken entstehende Schaden für die Kunden könne in die Milliarden gehen. Die Leipziger Strombörse beispielsweise kontrolliert sich weitgehend selbst, und die vielen außerbörslichen Marktplätze, auf denen weit mehr Strom umgeschlagen wird als an der EEX, sind völlig intransparent. Hinzu kommen rechtliche Lücken; es gibt keine Aufsicht, keine gesetzliche Überwachungsmöglichkeit, kein Verbot von Insiderhandel. Vermutung der EU-Kommission: Die Beschaffungspreise für Strom könnten wahrscheinlich noch niedriger sein.

Viertes Indiz: Die für Strom aus fossiler Energie notwendigen Emissionszertifikate gelten bereits als Teil der Strombeschaffungskosten. Bis Ende 2012 sind sie aber ein milliardenschweres staatliches Geldgeschenk, da den Kraftwerksbetreibern 91 Prozent der Zertifikate kostenlos zugeteilt wurden. Betriebswirtschaftlich ist die Einpreisung der geschenkten Zertifikate korrekt. Ein Energieunternehmen könnte schließlich die kostenlos zugeteilten Emissions-rechte auf dem CO2-Markt verkaufen. Werden diese jedoch stattdessen für ein laufendes Kraftwerk eingesetzt, entfallen die potenziellen Erlöse und belasten als sogenannte Opportunitätskosten – also als entgangener Gewinn – jede erzeugte Kilowattstunde. Unter dem Strich fließen den Energieversorgern allerdings doch Gewinne zu, da sie die meisten Zertifikate eben nicht kaufen müssen. Die Dimension zeigt eine Studie, die das Öko-Institut im Auftrag der Umweltstiftung WWF Ende November vorlegte. Demnach wird die Einpreisung von kostenlos erhaltenen CO2-Zertifikaten in den Strompreis den Unternehmen Eon, RWE, Vattenfall, EnBW und Evonik bis Ende 2012 Zusatzgewinne von rund 39 Milliarden Euro bescheren. Zum Vergleich: Die sogenannten Differenzkosten, also der Unterschied zwischen der gezahlten Vergütung für EEG-Strom und dem Marktpreis, die Grundlage für die EEG-Umlage sind, lagen im Jahr 2010 bei neun Milliarden Euro.

Fünftes Indiz: Eine Kernbrennstoffsteuer und zusätzlich eine Gewinnabgabe haben die großen Energieversorger relativ klaglos als Preis für die Laufzeitverlängerung ihrer Kernkraftwerke akzeptiert. Dass die Betreiber von Kernkraftwerken bei Laufzeitverlängerungen Zusatzgewinne in Milliardenhöhe machen, ist unbestritten. Strittig ist letztlich nur deren Höhe, da die genauen Kosten für die Erzeugung von Atomstrom nur die Kraftwerksbetreiber kennen und die zweite entscheidende Variable – der zukünftige Strompreis – für alle eine Unbekannte ist. Das Öko-Institut geht davon aus, dass die Laufzeitverlängerung den Betreibern zusätzliche 54 bis 94 Milliarden Euro einbringen wird, und selbst die vorsichtiger rechnende Landesbank Baden-Württemberg veranschlagt den monetären Vorteil des Atomausstiegsausstiegs für die Unternehmen mit 16 bis 40 Milliarden Euro.

Wie auch immer sich der Strompreis für Haushaltskunden zusammensetzt: Hinzu kommt – last, but not least – die Mehrwertsteuer, die seit dem Jahr 2007 bei 19 Prozent liegt. Da sie auf alle Komponenten des Strompreises aufgeschlagen wird, wirkt sie bei Privatkunden wie ein zusätzlicher Hebel. Die Erhöhung der EEG-Umlage ab Januar 2011 beispielsweise bedeutet daher auch kräftige Zusatzeinnahmen für den Staat: Diese Mehreinnahmen bei Bund, Ländern und Gemeinden werden voraussichtlich bei rund 511 Millionen Euro liegen. Das haben Schätzungen des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ergeben. „Es wäre ein richtiges Signal, diese zusätzlichen Mehrwertsteuereinnahmen ab dem Jahr 2011 in den von der Bundesregierung geplanten Fonds zur Förderung von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz zu stecken“, sagt BDEW-Vorsitzende Hildegard Müller. Schließlich seien dies Steuergelder, die aufgrund des Ausbaus erneuerbarer Energien zusammenkämen. „Das würde nahezu eine Verdoppelung des von der Bundesregierung geplanten Energie- und Klimafonds bedeuten und wäre ein wichtiger zusätzlicher Innovationsschub.“ Ihr Appell verhallte ungehört.

Eon hat übrigens – im Gegensatz zu den anderen Großkonzernen EnBW, RWE und Vattenfall – die Strompreise zum 1. Januar 2011 nicht angehoben. Vielleicht weil Johannes Teyssen ebenso wie die übrigen Entscheidungsträger um die Schwäche des Kostenarguments weiß, vielleicht auch nur, weil die letzte Preiserhöhung erste wenige Monate zurückliegt. Denn Anpassungen nach oben zu einem späteren Zeitpunkt schließt auch Eon nicht aus – und vielleicht sind dann auch für Eon die Erneuerbaren ein willkommener Sündenbock.