Industrie 4.0 – von der Vision zur Wirklichkeit?
In der Fabrik der Zukunft sind Menschen und Maschinen über Datennetze miteinander verbunden. Auch die Dinge und Systeme kommunizieren: Werkstück mit Werkzeug, Markt mit Produktion, Produktion mit Zulieferer, und die Abläufe entspringen flexibler Interaktion. Diese Vernetzung innerhalb der Produktion sowie über Betriebsgrenzen hinaus ist jedoch nur mit international gültigen Normen und Standards möglich – und mit gut qualifizierten Beschäftigten...
Seit dem Jahr 1989 stellen die Beschäftigten des Siemens-Elektronikwerks Amberg die Simatic her. Mit dieser speicherprogrammierbaren Steuerung lässt sich so gut wie alles regeln, vom Vorhang im Theater bis zum Fließband einer Autofabrik; es gibt sie in mehr als 1000 Varianten. In Amberg steuert zudem jede Simatic ihre eigene Fertigung. Möglich macht das ein individueller Produktcode, den jede Leiterplatte trägt. Darüber teilt sie jeder Maschine mit, welche Anforderungen sie hat und welche Produktionsschritte als nächstes nötig sind. Dabei sind sämtliche Prozesse IT-optimiert und -gesteuert, alles ist über das Internet of Things (IoT) und eine konzerneigene Cloudlösung mit allem vernetzt. Mehr als tausend Scanner dokumentieren in Echtzeit sämtliche Schritte im Herstellungsprozess, sie sammeln Informationen wie Löttemperatur, Bestückungsdaten oder Prüfergebnisse. Jedes Teil, jede Maschine, jeder Arbeitsschritt wird in Daten übersetzt und erfasst.
Jeden Tag kommen so mehr als 50 Millionen Datensätze zusammen – Big Data. Die Daten werden live ausgewertet, die Produktion wird umfassend analysiert. Die Sensoren und Datenströme bilden dabei ein künstliches neuronales Netz: Auf Grundlage der Daten entscheidet die smarte Fabrik beispielsweise, wann welches Produkt hergestellt wird. Gleichzeitig fließen in die Produktion ständig die neuesten Simatic-Weiterentwicklungen ein, und die während der Produktion gewonnenen Erkenntnisse werden an die F&E-Abteilungen zurückgespielt.
Interaktion und Vernetzung gehen jedoch über die Betriebsgrenzen hinaus. Auch Lager- und Zuliefererdaten aus den USA, China und Deutschland beeinflussen in Amberg die Produktion. Ohne Normen und Standards für passende Schnittstellen und sichere Kommunikation wäre das nicht möglich. Eine allumfassende Industrie-4.0-Norm wird aufgrund der Vielzahl betroffener Technologiefelder wahrscheinlich nicht entstehen. Aber die deutsche Plattform Industrie 4.0 hat das Referenzarchitekturmodell RAMI 4.0 entwickelt, das US-amerikanische Industrial Internet Consortium (IIC) eine Industrial Internet Reference Architecture (IIRA). Siemens gehört zu den Unternehmen, die sich aktiv in beide inzwischen kooperierende Organisationen einbringen.
Trotz der tiefgreifenden Digitalisierung hat sich seit der Eröffnung des Siemens-Werks optisch wenig verändert – es gibt lediglich mehr und größere Maschinen. Aber das Werk hat bei gleicher Fläche und kaum angewachsener Mitarbeiterzahl das Produktionsvolumen verneunfacht. Bei der Qualität gab es ebenfalls einen Sprung. Während die Produktion 1989 eine Mängelquote von 500 defects per million (dpm) auswies, also pro einer Million Fehlermöglichkeiten 500 Fehler gezählt wurden, sind es heute weniger als elf dpm. Und anstatt an einer Stelle der Produktion die immer gleiche Aufgabe zu erledigen, wechseln die Beschäftigten jetzt zwischen verschiedenen Stationen hin und her. Statt eines Produkts können sie zudem an den modernen Montageinseln bis zu 100 verschiedene Produkte produzieren; Monitore blenden zur Unterstützung die jeweils benötigten Informationen ein. Und während Roboter stark repetitive und damit monotone Aufgaben übernehmen, überwachen Menschen die Produktions- und Prüfprozesse. Außerdem entwickeln sie Verbesserungsideen und greifen bei unvorhergesehenen Zwischenfällen ein.
Die Wissenstiefe der Belegschaften verändert sich dabei in zwei Richtungen. Zum einen müssen Fachkräfte ihre Maschine in- und auswendig kennen und mit der leistungsstarken Software umgehen können. Zum anderen ermöglichen die Systeme den Menschen, die Maschinen viel besser zu fahren und zu optimieren. Manchen Studien zufolge können die gut ausgebildeten Fachkräfte in Deutschland diese Anforderungen besser und schneller umsetzen als Beschäftigte in vielen anderen Ländern. Das soll – in Verbindung mit der Technologieführerschaft – den Industriestandort Deutschland stärken. Ob dieses Wunschszenario eintritt und auch die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausreichend berücksichtigt, bleibt abzuwarten.