Verborgene Interessen
50, 100 oder 200 Gigawatt – wie viel Photovoltaik darf es denn in Zukunft in Deutschland sein? Gefragt sind jetzt Konzepte, um den Solarstrom über das Netz zu verteilen und Schwankungen auszugleichen. Bei der Diskussion spielen jedoch nicht nur Sachfragen eine Rolle...
Cooper hatte ein Herz für erneuerbare Energien. Das Sibirien-Hoch, das im Februar in Mitteleuropa für klirrende Kälte sorgte, brachte sowohl Wind als auch Sonne nach Deutschland. Übereinstimmend berichteten die vier Übertragungsnetzbetreiber Amprion, Tennet, 50 Hertz und EnBW bei einer Umfrage der Nachrichtenagentur dapd, die Situation im deutschen Stromnetz sei trotz der Stilllegung von acht Atomreaktoren stabil. Zwar sei wegen der Kälte mehr Strom verbraucht worden als normal. Doch habe Cooper auch für ausreichende Mengen an erneuerbarer Energie gesorgt, um den gestiegenen Bedarf zu decken. Dank des Sonnenscheins haben demnach die Photovoltaikanlagen vor allem im Süden Deutschlands, wo die Netzbetreibereinen Engpass bei konventionellen Kraftwerken sehen, täglich bis zu 9.000 Megawattstunden Strom geliefert; von den Windkraftanlagen im Norden kamen weitere 10.000 Megawattstunden. „Deutschland hat in den letzten Tagen sogar Strom exportiert“, sagte Amprion-Sprecher Marian Rappl. „Das Wetter meint es gut mit der Energiewende.“
Das Wetter allein reicht natürlich nicht, gefragt sind auch politischer Wille und technischer Fortschritt. Denn die Geschwindigkeit des Photovoltaikausbaus in Deutschland hat dazu geführt, dass sich manche Fragen viel früher stellen als gedacht. Dazu gehören Höhe und Dauer der Förderung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Dazu gehören aber auch die Fragen, wie viel Solarstrom eines Tages fließen soll, wie man ihn über das Netz verteilt und wie sich Schwankungen ausgleichen lassen. Themen, die auch die Teilnehmer der Tagung Inverter and PV System Technology im Januar in Berlin beschäftigten.
Wie akut der Handlungsbedarf ist, machte Gerd Becker gleich in der ersten Stunde der Veranstaltung klar. „In einigen Regionen Deutschlands sind die Netze bereits voll“, sagte der Leiter des Labors für Solartechnik und Energietechnische Anlagen an der Hochschule München. Das Labor arbeitet unter anderem am Projekt „Netz der Zukunft“ von Eon Bayern. Allerdings gibt es „das Netz“ nicht, wie die vielschichtige Diskussion um den Ausbaubedarf zeigte. Ein Ausbau des Hochspannungsnetzes um zehn Prozent beispielsweise ist aus Beckers Sicht unverzichtbar. Er ist sicher, dass die Erneuerbaren Probleme machen werden, wenn nicht entsprechend investiert wird – allerdings kostet jeder dieser zusätzlichen 4.400 Leitungskilometer zwischen 1 und 1,5 Millionen Euro. „Das Hochspannungsnetz müsste vor allem für Windenergie ausgebaut werden“, widerspricht Bernd Engel Beckers These. Engel lehrt an der TU Braunschweig und ist unter anderem auch Sprecher der Fachgruppe Netzfragen des Bundesverbandes Solarwirtschaft sowie Vorstandsbeauftragter Netzintegration bei SMA. Denn die von Becker genannte Zahl fußt auf Szenarien mit allerhand Voraussetzungen, beispielsweise dass ein Großteil des Stromes aus Offshore-Windkraftanlagen kommt. Wenn sich diese Voraussetzungen ändern, zum Beispiel weil mehr Strom aus Sonne und weniger aus Wind erzeugt wird, ändert sich der Ausbaubedarf im Hochspannungsbereich – etwa die Hälfte könnte dann auch reichen, sind sich Becker und Engel einig.
Klar ist jedoch, so Becker: Je mehr erneuerbare Energie in die Netze eingespeist werde, umso größer sei auch ihre Bedeutung für die Netzstabilität und umso wichtiger sei es, alle Erneuerbaren gemeinsam zu betrachten und nicht nur isoliert eine einzelne Erzeugungsform wie zum Beispiel die Photovoltaik – weil zwar alle Erneuerbaren fluktuieren, das aber auf unterschiedliche Weise, und weil es in Deutschland bei der Erzeugung wie auch beim Verbrauch verschiedene regionale Schwerpunkte gibt. Um die dezentral erzeugte Energie gut verteilen zu können, müssten zum Beispiel auch die Netze mit Nieder- und Mittelspannung erweitert werden. „In Städten und eng besiedelten Regionen gibt es kaum Probleme wegen zu knapp bemessener Netze, in ländlichen Regionen allerdings gibt es Nachholbedarf“, ergänzt Engel.
„Mehr Leitungen allein reichen jedoch nicht“, sagt wiederum Becker: Auf die Fluktuation beispielsweise müsse unter anderem mit Erzeugungsmanagement, Speicherlösungen und mehr Eigenverbrauch reagiert werden, auf unerwünschte Spannungsanstiege im Nieder- und Mittelspannungsnetz zum Beispiel mit Wechselrichtern, die Blindleistung zur Verfügung stellen. Netzausbau, so Becker, bedeute daher neben neuen Leitungen auch neue Komponenten und eine bessere Struktur. Und Engel prophezeit der Branche in Sachen Netzintegration einen Paradigmenwechsel: „Verteilnetze müssen zu Sammelnetzen werden.“ Das Erzeugungsmanagement sei ein wichtiger Schritt innerhalb dieser Entwicklung. Für mehr Dynamik – immerhin sind die meisten Probleme seit Jahren bekannt, aber getan hat sich bislang überraschend wenig – fehlt aus Engels Sicht aber noch eine übergeordnete Strategie, die alle Stakeholder einschließt. „Die politische Vision muss von der Regierung kommen, dann kann die Industrie entsprechende Lösungen entwickeln.“
Jochen Link vom Fraunhofer ISE zufolge könnte schon ein Detail viel zu diesen Lösungen beitragen: die Kompatibilität der verschiedenen Komponenten. Link bemängelt, dass bislang zu viele uneinheitliche Schnittstellen und Kommunikationsprotokolle beispielsweise den dringend notwendigen Datenfluss oder auch die Steuerung der Erzeugung unmöglich machen – wichtige Voraussetzungen für ein tatsächliches smartes Netz. Ebenso wichtig sei aber auch die Lösung eines weitaus größeren Problems: der Speicherung, zumal eine Technik allein wahrscheinlich nicht ausreichen wird. „Wir werden zentrale und dezentrale Speichermodelle ebenso brauchen wie kurz-, mittel- und langfristige Speicherlösungen“, sagt Link. Gleichzeitig müsse überlegt werden, ob Speicher an Gleich- oder an Wechselstrom angebunden sein sollen sowie was in welcher Form gespeichert werden kann – Strom müsse dafür schließlich nicht zwingend in eine Batterie fließen.
„Die Batteriepreise müssten auf ein Drittel des jetzigen Preisniveaus sinken, um als Speicherlösung in Frage zu kommen“, sagt Volker Quaschning, der an der HTW Berlin auf dem Fachgebiet Regenerative Energiesysteme forscht und lehrt. Darauf zu warten, würde aus seiner Sicht die Photovoltaik unnötig ausbremsen – trotzdem sei natürlich die Entwicklung von Speicherlösungen wichtig, um gerade bei kleinen Anlagen den Verbrauch direkt vor Ort maximieren zu können. Insgesamt könnten deutsche Dächer und Fassaden, Verkehrstrassen und Freiflächen 203 Gigawatt Photovoltaik Platz bieten, der so erzeugte Solarstrom könnte 29 Prozent des Bedarfs decken. Für Quaschning ist die Photovoltaik in Deutschland die beste Möglichkeit, nicht nur Atomkraft zu ersetzen, sondern auch fossile Energieträger, da bei Wasserkraft, Biomasse und Geothermie das Potenzial zu limitiert und bei Windkraft der jährliche Zubau zu gering ist. Entscheidend sei dafür jedoch ein konstant hoher jährlicher Photovoltaikzubau. Bei drei Gigawatt jährlich liege der Photovoltaikanteil am Energiemix im Jahr 2035 nur bei etwa elf Prozent, bei acht Gigawatt jährlich könnten bis 2035 die 29 Prozent erreicht werden.
Die Einspeisevergütung hätte Quaschning zufolge bis dahin längst ausgedient. „Wenn etwa 50 bis 60 Gigawatt Photovoltaik in Deutschland installiert sind, werden wir immer wieder einen Stromüberschuss erleben. Dieser Punkt könnte in vier Jahren erreicht sein. Spätestens dann wird wahrscheinlich das EEG die Förderung einstellen.“ Dann, so Quaschning, werde wahrscheinlich ein großer Teil des Solarstroms selbst verbraucht und für den Überschuss könnten andere Nutzungen in Frage kommen, beispielsweise das Heizen mit Solarstrom statt mit Öl. Mögliches Modell für eine Fünf-Kilowatt-Photovoltaikanlage im Jahr 2016: mindestens 25 Prozent Eigenverbrauch, etwa 25 Prozent Einspeisung, der Rest unterstützt die Heizung. Quaschning: „Das rechnet sich sogar, wenn Sie deneingespeisten Strom für nur drei Cent je Kilowattstunde verkaufen.“
Tagstromheizung statt Nachtstromspeicher? Möglich. Windstromland Dänemark erprobt bereits, in seinen vielen Anlagen für Kraft-Wärme-Kopplung künftig statt Öl- oder Gasbrenner große Tauchsieder zuzuschalten, wenn bei viel Wind der Strompreis günstiger ist als das Heizen mit Gas. Und: „Viele Einflussfaktoren sind nicht absehbar“, sagt Hans-Josef Fell, energiepolitischer Sprecher der Grünen. „Was passiert, wenn wir in diesem Jahr einen Arabischen Frühling in Saudi-Arabien bekommen und das Barrel Öl auf einmal 500 Dollar kostet?“ Das hätte wahrscheinlich nicht nur Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der Photovoltaik, sondern auch für den politischen Willen, die Energiewende voranzutreiben. Fell warnte außerdem davor, bei den Diskussionen um das Potenzial der Erneuerbaren, die Kosten der Energiewende und die Leistungsfähigkeit der Netze die Hintergedanken und verborgenen Interessen der verschiedenenMarktakteure zu vernachlässigen – schließlich gehe es auch um Marktanteile und damit um Geld.
Wie solche verborgenen Interessen aussehen können, zeigt übrigens ebenfalls eine Wetterkapriole. Nur wenige Wochen vor Hoch Cooper musste Sturmtief Ekkehard als Beispiel für die Gefahren der Energiewende herhalten. Das Tief brachte die norddeutschen Windrotoren im Dezember so in Schwung, dass sie an einigen Tagen rund 20.000 Megawattstunden Strom einspeisten. Hinzu kamen wenig Sonne im Süden sowie der ungeplante Ausfall eines Blocks des bayerischen Atomkraftwerks Grundremmingen. Tennet, dessen Netz von der Nordseeküste bis nach Bayern reicht, forderte daraufhin Strom aus Österreich an, die sogenannte Kaltreserve. Das rief Kritiker der Energiewende auf den Plan, die durch den Windstrom die Netzstabilität bedroht sahen und außerdem die CO2 -Bilanz der Aktion bemängelten – die Österreicher hatten für Tennet ein betagtes Öl-Kraftwerk bei Graz hochgefahren. Dabei hätte Tennet Bayern durchaus mit dem im Norden produzierten Windstrom versorgen können. „Auch an diesen Tagen wurde Windstrom aus Norddeutschland durch das süddeutsche Netz nach Italien und Österreich exportiert“, sagt Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation „Ausgestrahlt“. „Der Rückgriff auf das österreichische Kraftwerk erfolgte also nicht aus einer Notlage heraus, sondern weil es größere Gewinne versprach, Windstrom aus dem Norden nach Südeuropa zu verkaufen und gleichzeitig kurzfristig geringe Mengen Strom aus Österreich einzukaufen.“
Das Internationale Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR) geht angesichts der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Lieferverpflichtungen nach Italien sogar noch weiter: „Es könnte also auch so gewesen sein, dass mit der Aktivierung der österreichischen Kaltreserve ein eleganter Weg gefunden wurde, den AKW-Ausfall und die entstandenen Kompensationskosten über die Netzentgelte auf alle Stromverbraucher abzuwälzen. Hätte man ein deutsches Kraftwerk zur Stromlieferung nach Italien für den AKW-Ausfall eingesetzt, dann hätten die deutschen Versorger die Kosten auf jeden Fall selbst tragen müssen. Man darf gespannt sein, zu welchem Ergebnis die Bundesnetzagentur bei der Beurteilung dieses Falls am Ende kommt.“