Verlag 4.0
Industrie 4.0 klingt nach einem Thema der Produktionsbetriebe und Ingenieure. Aber das Internet der Dinge und Dienste sowie die zunehmende Vernetzung von Geräten und Nutzern eröffnen auch Verlagshäusern neue Handlungsfelder – und neuen Handlungsbedarf...
Wer die TecFabrik von Mercedes-Benz in Sindelfingen betritt, wird vor allem eins vermissen: das Fließband. Gerade einmal 100 Jahre ist es her, dass Henry Ford damit die Automobilfertigung revolutionierte. Jetzt nehmen die Hersteller Abschied vom Montageband: In der TecFabrik, in der Mercedes-Benz Technologien aus dem Bereich Industrie 4.0 entwickelt und erprobt, surrt die Rohkarosserie auf magnetisch gesteuerten Transportschlitten durch die Halle. Fahrzeug und Teile sind mit Sensoren versehen, die auftragsbezogene Informationen enthalten – die Konfiguration seines neuen Wagens konnte der Kunde bis dahin in Echtzeit ändern. Mit Hilfe dieser Sensoren und digitaler Markierungen sucht sich jedes Fahrzeug seinen richtigen Platz in der Produktionskette selbst und teilt dort der Maschine mit, was zu tun ist. Im Inneren der Rohkarosserie montiert – von Menschen gesteuert – ein Leichtbauroboter Teile an schwer zugänglichen Stellen. Trotzdem haben die Beschäftigten dank Gestensteuerung oft die Hände frei: Ein Armband misst die Muskelströme und zieht aufgrund der Signale Rückschlüsse darauf, wie der Mitarbeiter seinen Arm oder die Finger bewegt. Gleichzeitig bestimmt eine Infrarotkamera an der Decke seine Position. Mit diesen Daten, die über Bluetooth an einen Rechner gesendet werden, werden die Roboter gesteuert. Da die komplette Produktionskette zentral gespeichert ist, können auf Displays jederzeit der Soll- und der Ist-Zustand übereinandergelegt werden, was die Kontrolle erleichtert. Und wenn eine der Maschinen bei einem Werkstück oder gar bei sich selbst ein Problem feststellt, stellt sie nicht stumm den Betrieb ein, sondern meldet sich mit Fehleranalyse und Lösungsanweisung zu Wort – via Tablet oder Datenbrille.
Was nach Science Fiction klingt, revolutioniert gerade in vielen Branchen die Prozesse. In der Produktion ist das besonders gut sichtbar, der Wandel erstreckt sich aber auch in den administrativen Bereich und das Wissensmanagement. So wie die Rohkarosserie zur richtigen Zeit die passenden Informationen übermittelt, stellen Verlage dank digitaler Technik aktuelle fachspezifische Informationen unmittelbar im Arbeitsablauf bereit. Statt potenziell veralteter Handbücher oder PDFs können beispielsweise Monteure der TecFabrik Assistenzsysteme bestehend aus Sensoren und Datenbrillen nutzen: Das System erkennt Handgriffe, blendet relevante Informationen zum jeweils nächsten Schritt in Form von Text, Grafiken oder Animationen in das Sichtfeld ein, weist auf Fehler hin und zeigt notwendige Korrekturen an.
Erst 2011 als Vision formuliert, hat sich Industrie 4.0 inzwischen zu einem Schlagwort auf Messen und Kongressen, von Politik und Wirtschaft entwickelt. Die erste industrielle Revolution bildete im 19. Jahrhundert die Erfindung der Dampfmaschine und damit die Mechanisierung der Produktion. Die zweite industrielle Revolution folgte Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Einführung von Fließbandarbeit und Massenherstellung, die dritte begann erst vor wenigen Jahrzehnten mit computergestützter Fertigung und Automatisierung. Und nun soll die vierte industrielle Revolution folgen, in Deutschland auch Industrie 4.0 genannt: die intelligente Fertigung. Dabei sind Menschen und Maschinen über Datennetze verbunden und kommunizieren miteinander: Werkstück mit Werkzeug, Markt mit Produzent, Produktion mit Zulieferer. Und die Abläufe entspringen keinem Schema, sondern flexibler Interaktion.
Tatsächlich geht es um mehr als eine technisch verfeinerte Anwendung digitaler Möglichkeiten, sondern um eine neue Qualität im Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. Das Internet der Dinge und Dienste, das Teil der Industrie 4.0 ist, macht Apparate zu Akteuren. Diese Möglichkeiten können nicht nur für das produzierende Gewerbe, sondern auch für menschliche Nutzer attraktiv sein: der Badezimmerspiegel mit integriertem Bildschirm und Gesichtserkennung, der morgens beim Zähneputzen schon die eigenen Outlook-Termine oder aktuelle Nachrichten anzeigt, das Auto, das freie Parkplätze findet und selbstständig einparkt, oder sogenannte Wearables, die im Dienste der Arbeitssicherheit bei Grenzwertüberschreitungen ihren Träger und die zuständigen Stellen alarmieren.
In solchen Anwendungen agieren Maschinen eigenständig und dennoch nah am Menschen und dessen individuellen Bedürfnissen. Ein wichtiger Aspekt, denn im vielfach ingenieur- und produktionslastigen Deutschland wird der Begriff Industrie 4.0 häufig (noch) zu technisch verstanden. Natürlich macht die Verschmelzung der physischen und der digitalen Welt andere und flexiblere Prozesse möglich. Aber es geht um mehr als um die Frage, vorhandene Produkte digitalisiert und möglichst effizient zu produzieren. Im angelsächsischen Raum beispielsweise ist nicht von Industrie 4.0, sondern vom Industrial Internet die Rede – und im Zentrum steht die Frage, welche analogen oder digitalen Produkte und Services Kunden wollen und wie sich die darauf aufbauende Wertschöpfungskette digitalisieren lässt.
Für Verlage ist diese Frage wesentlich, denn die Vernetzung der Mediennutzer setzt sich fort. Inhalte und Informationen werden zwar die Basis der Wertschöpfung bleiben. Laut einer aktuellen Deloitte-Studie wird jedoch die sogenannte Omni-Connectivity zum unverzichtbaren Feature. Die Zahl der Endgeräte mit Internetkonnektivität steigt ständig, Deloitte rechnet in Deutschland im Jahr 2020 mit über 250 Millionen vernetzten medienrelevanten Geräten. Gleichzeitig greifen immer mehr Nutzer am Arbeitsplatz ebenso wie zuhause oder unterwegs auf leistungsstarke Netzinfrastrukturen zu. Und sie übertragen das gelernte Verhalten aus dem Web auf ihre Mediennutzung: „Der Medienkonsum der Zukunft soll aus Sicht seiner Nutzer gleichzeitig individuell, umfassend, flexibel, mobil, social und interaktiv sein“, sagte Klaus Böhm, Media Leader bei Deloitte. Medienunternehmen müssten daher ihre Formate anpassen und ergänzen, Omni-Connectivity werde mehr und mehr zur Voraussetzung für eine erfolgreiche Vermarktung von Inhalten. Nicht nur in der Produktion, auch am Schreibtisch zählt ein schneller Zugriff auf relevante Informationen sowie deren effiziente Aufbereitung und Einbindung, punktgenau an Kundenbedürfnissen und Nutzungssituationen orientiert. Wolters Kluwer beispielsweise hat eine Anwendung konzipiert, mit der Nutzer zu rechtlichen Fragestellungen eigene Inhalte, verlagsübergreifende Informationen und freie Webinhalte in einer elektronischen Akte zusammenführen können – tagesaktuell und ohne die Notwendigkeit, in zusätzliche Software zu investieren.
Laut Thomas Hess, Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien der Ludwig-Maximilians-Universität München, haben viele Verlage bereits erste erfolgreiche Schritte absolviert, um ihre Inhalte sowie die Idee der Zeitschrift oder Zeitung vom Medium des Papiers zu emanzipieren: die Digitalisierung der Produktseite beispielsweise mit neuen Formaten und die Automatisierung der Produktionsprozesse etwa durch den Einsatz spezieller Software. Diese Automatisierung ist aus seiner Sicht ausbaufähig: „Zumindest einfache Nachrichten oder Meldungen könnten computergenerierte Texte sein.“ So lässt die amerikanische Nachrichtenagentur AP Algorithmen aus Quartalszahlen in Meldungen verwandeln, auch in der Sportberichterstattung schreiben immer häufiger Computer die Texte. Und Haufe hat eine Software entwickelt, die Arbeitszeugnisse aus einer Matrix aus Tätigkeitsbeschreibungen und Bewertungsskala erstellt und die verwendeten Musterformulierungen laufend rechtssicher aktualisiert.
Berater Peter Schmid-Meil betont in diesem Zusammenhang eine wichtige, aber oft vernachlässigte Technologiekompetenz: den richtigen Umgang mit den Inhalten auf der einen sowie mit Verzeichnisstrukturen und Metadaten auf der anderen Seite. „Ohne saubere Datenhaltung klappt kein reibungsloser Export in andere Systeme, und ohne valide und umfassende Metadaten funktionieren weder etwa eine Suche nach Inhalten noch beispielsweise ein nachgeschaltetes Empfehlungsmanagement“, sagt der Spezialist für digitales Publizieren. „Hier verändern sich die Wertschöpfungsketten gerade erheblich – auch die Daten um Inhalte herum werden ein Wirtschaftsgut.“ Für potenzielle Kunden sei es nicht mehr nur interessant, welcher Content-Lieferant attraktive Inhalte samt der nötigen Recht besitze, sondern auch, wer die Daten am vollständigsten und saubersten vorhalte.
In den USA beispielsweise haben das Bahnunternehmen Amtrak und die Fluglinien Southwestern Airlines und JetBlue ihre bordeigenen Entertainmentsysteme um spezielle E-Book-Plattformen ergänzt. Lieferanten sind die Publikumsverlage HarperCollins und Penguin Random House sowie der international agierende Buchhändler und E-Book-Reader-Produzent Kobo, die diese Plattformen zudem als zusätzlichen Vertriebsweg nutzen. In Deutschland verzichtet die Lufthansa seit Januar weitgehend auf Printprodukte an Bord, stellt aber trotzdem deutschsprachige und internationale Magazine und Zeitungen zur Verfügung – als E-Paper. Und auch bei Fachinformationen müssen Anbieter vermehrt die Formate, Geräte und Kanäle bedienen, die der Kunde vorgibt. Das macht Verlage zu Spezialisten nicht nur für Content, sondern auch für Software, da sie ihre Inhalte direkt in die Anwendungssoftware der Kunden liefern – sei es die Datenbrille, die Finanzbuchhaltung oder die E-Learning-Plattform.
Digitalisierung ist zudem keine Einbahnstraße. Klaus Böhm von Deloitte ist sicher, dass Medienhäuser von einer Vielzahl zusätzlich generierter Daten profitieren könnten – sofern die in Sachen Datenschutz und Datensicherheit oft sensiblen Mediennutzer mitspielen und den Einblick in ihre Nutzungsdaten erlauben. Immerhin lassen sich selbst in Printprodukte digitale Rückkanäle einbauen, beispielsweise wenn Leser über Augmented-Reality-Techniken auf Aktualisierungen und zusätzliche Inhalte zugreifen oder über Apps und Smartwatches ergänzende Services nutzen können. „Werbung kann durch zusätzliche Consumer Insights kontextspezifischer, individueller und damit relevanter werden“, so Böhm. „Und die Kunden können dank Analytics und smarten Empfehlungsfunktionalitäten leichter weitere relevante Inhalte finden, was den Verlagen wieder neue Vermarktungsmöglichkeiten eröffnet.“
Neue Vermarktungsmöglichkeiten – und wiederum neue Ideen für zusätzliche kundenrelevante Angebote. So wie ein smartes Heizungsthermostat anhand der Außentemperaturen und des bisherigen Heizverhaltens vorausberechnet, wann und wie die Heizung zu laufen hat, könnte sich anhand der Nutzung von Inhalten und weiteren möglichen Daten wie Wohnort oder Branche zukünftiger Informationsbedarf errechnen lassen. Und Algorithmen können nicht nur Standardtexte schreiben, sondern komplexe Dokumente so verändern, dass der Eindruck eines individuell erstellten Textes entsteht. Die New York Times verwendete die Technik Anfang Mai 2015 für den auf einer Harvard-Studie beruhenden Online-Text „Best and Worst Places to Grow Up“: Je nach IP-Adresse des Nutzers erhielt der Artikel einen passenden regionalen Schwerpunkt – eine spezielle Variante für personalisierte Location-based Services, die für diverse Berufsgruppen auch bei der Aufbereitung von regional abweichenden Fachinformationen interessant ist: Anwälte oder Steuerberater, Architekten, Verwaltungsfachleute.
Es ist wahrscheinlich diese mögliche Nähe zwischen Nutzer und Produzent, welche die Parallele zwischen Industrie 4.0 und digitalen Verlagsstrategien am besten beschreibt, wenn physische und digitale Welt miteinander verschmelzen. Nicht nur bei der Herstellung von Autos, sondern auch bei der Produktion von Inhalten und der Übermittlung von Informationen sind Menschen und Maschinen über Datennetze miteinander verbunden, kommunizieren die Dinge und Systeme nonverbal. Und das Produkt entspringt keiner One-to-many-Kommunikation, sondern flexibler Interaktion.