Strom aus der Sahara

Kommt Europas Energie künftig aus der Sahara? Experten halten das für durchaus möglich. Für die Erzeugung des Stroms bevorzugen sie allerdings solarthermische Kraftwerke, nicht die Photovoltaik…

„Wir werden uns an den Anblick von Kabeln gewöhnen müssen“, sagt Frank Behrendt. Der Professor der TU Berlin, Fachgebiet Energieverfahrenstechnik und Umwandlungstechniken regenerativer Energien, hat wenig Verständnis für den Widerstand vieler Menschen gegen Stromleitungen im Umfeld ihrer Wohnungen und Häuser. Strom werde schließlich immer mehr an Bedeutung gewinnen – nicht zuletzt für Elektroautos oder die Haustechnik moderner Gebäude.

Geht es nach Hans Müller-Steinhagen, werden wir uns sogar an den Anblick sehr vieler Kabel gewöhnen müssen. Der Direktor des Instituts für Technische Thermodynamik am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) setzt sich seit Jahren dafür ein, Europas Energiehunger in Zukunft nachhaltig, also aus regenerativen Quellen zu stillen. Diese Quellen müssen seiner Meinung nach jedoch nicht alle in Europa liegen, zumal Müller-Steinhagen ohnehin nicht glaubt, dass kleinteilige, dezentrale Konzepte wie Photovoltaikanlagen auf Hausdächern nennenswert zu der für Haushalte, Industrie und Infrastruktur notwendigen Stromproduktion beitragen können. „Aber in den Wüsten Nordafrikas gibt es Sonne im Überfluss, die sich im großen Stil nutzen lässt.“

Dieser Überfluss ist selbst Frankreichs Präsidenten und Atomkraftbefürworter Nicolas Sarkozy nicht entgangen. Denn einer der Schlüsselbereiche der von ihm im vergangenen Jahr ausgerufenen Mittelmeerunion ist die Initiative für einen mediterranen Solarplan. Ein Plan, der schon allein wegen seines Namens in der Photovoltaiknation Deutschland begrüßt wurde. Dabei spielt die Photovoltaik darin so gut wie keine Rolle. Statt dessen sollen in erster Linie solarthermische Kraftwerke den Sonnenreichtum Nordafrikas für Europa nutzbar machen – aus mehreren Gründen, wie die Auftaktveranstaltung der Vortragsreihe „Kraftakt: Energiemix der Zukunft“ zeigte. Auf Einladung des Innovationszentrums Energie der TU Berlin und der Technologiestiftung Berlin diskutierten Wissenschaftler Potenziale und Probleme des Wüstenstroms.

„Wer Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung will, kommt an erneuerbaren Energien nicht vorbei“, sagt Müller-Steinhagen. „Denn wer über Energieversorgung spricht, redet gleichzeitig von dem Gesicht, das unsere Erde in wenigen Jahrzehnten haben wird.“ Das DLR hat inzwischen – gemeinsam mit diversen Projektpartnern – eine ganze Reihe von Studien zur nachhaltigen Energieversorgung Europas vorgelegt und dabei auch die Möglichkeiten eines Energieverbundes zwischen Nord und Süd untersucht. Schwerpunkt bildeten die Staaten Europas (EU), des Mittleren Ostens (Middle East, ME) und Nordafrikas (NA).

Ein Ergebnis: Mit Biomasse, Geothermie, Sonne, Wind und Wasser lassen sich in der EUMENA-Region pro Jahr rund 640.000 Terawattstunden Strom erzeugen – ein Vielfaches der heute und wahrscheinlich selbst der im Jahr 2050 benötigten Menge. In der Sonne stecke dabei mit 630.000 Terawattstunden das weitaus größte Potenzial, vor allem in den MENA-Ländern: In der Sahara könnten solarthermische Kraftwerke auf der Fläche Österreichs den Strombedarf der gesamten Welt decken. Für die Versorgung Deutschlands würden bereits Kraftwerke auf einer Fläche ausreichen, die in etwa den Städten Hamburg und Berlin entspricht. Der anschließende Transport des Stroms ist aus seiner Sicht technisch kein großes Problem. Müller-Steinhagen: „Bei der Übertragung über ein Hochspannungsgleichstromnetz gehen je 1.000 Kilometer nur drei Prozent verloren – Umwandeln bereits inklusive. Bei Wechselstrom ist es das Drei- bis Vierfache.“ Er verweist auf die inzwischen über 60 Trassen zur Hochspannungsgleichstromübertragung (HGÜ), die weltweit bereits in Betrieb sind, beispielsweise zwischen der Nord- und der Südinsel Neuseelands oder zwischen Dänemark und den Niederlanden. „Im Gegensatz zu Wechselstrom ist bei der HGÜ auch der Transport über größere WasserflächenStand der Technik.“

Solarthermische Kraftwerke arbeiten nach einem Prinzip, das jeder kennt, der einmal mit einer Lupe Löcher in Papier gebrannt hat. Stark vereinfacht ist der Ablauf so: Spiegelsysteme konzentrieren das Sonnenlicht auf einen Punkt, um beispielsweise Wasser zu erhitzen; der Wasserdampf treibt eine Turbine an und diese einen Generator, der den Strom erzeugt. Die Technik ist nicht neu, in Kalifornien produzieren solarthermische Kraftwerke bereits seit über 15 Jahren Strom – ohne Probleme und zu einem konkurrenzfähigen Preis. Warum halten Wissenschaftler sie – zumindest in Wüstenregionen – auch heute noch für besser geeignet als moderne Photovoltaik- oder Konzentratoranlagen? Ein Grund ist der Landverbrauch: „Solarthermische Kraftwerke bringen ihre Leistung auf vergleichsweise geringem Raum“, sagt Müller-Steinhagen. Auf einem Quadratkilometer Fläche ließen sich pro Jahr 250 Millionen Kilowattstunden Strom erzeugen. Ein weiterer Grund ist die Effizienz: „Photovoltaikmodule bringen in der Hitze der Wüste nicht ihre optimale Leistung. Außerdem können Kraftwerke mit Hilfe von Wärmespeichern auch nach Sonnenuntergang noch Strom erzeugen.“ In der DLR-Versuchsanlage im spanischen Almeria speichern Tanks mit 35 Millionen Tonnen flüssigem Salz die überschüssige Wärme, an neuen Speichermaterialien wie einem speziellen Beton wird gerade geforscht. In Almeria sei es so möglich, bis zu 20 Stunden pro Tag Strom zu produzieren – das mache die Versorgung sehr viel planbarer und verlässlicher.

Auch die Kosten spielen eine Rolle: „Im Gegensatz zur Photovoltaik kommt die Solarthermie ohne teure Hightech-Flächen aus Halbleitern aus“, so Hans Müller-Steinhagen. Die PV brauche zwar im Gegenzug keinen Generator, aber angesichts der Größe von solarthermischen Kraftwerken hätten die Kosten für Turbinen und Generatoren einen sehr viel geringeren Einfluss auf die Kalkulation als die Ausgaben für die Kollektorfläche. Nicht zuletzt hätten die Kraftwerke auch für die Länder, in denen sie stehen, einen konkreten Vorteil, den die Photovoltaik nicht bieten könne: „Die Wärme aus solarthermischen Kraftwerken kann Verdampfungsanlagen zur Meerwasserentsalzung speisen, die zurzeit überwiegend mit fossilen Brennstoffen betrieben werden.“ Ignoriert wird die Photovoltaik von den Wissenschaftlern natürlich nicht, ebenso wenig wie die anderen regenerativen Energiequellen. „Aber für eine nachhaltige Versorgung Europas sollten wir den Strom dort erzeugen und einspeisen, wo die Bedingungen für die jeweilige Technik optimal sind.“

Solche technischen Bedingungen lassen sich leicht klären – im Gegensatz zu den notwendigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Der Solarplan der Mittelmeerunion hat zwar das Ziel, dass bis 2020 in den MENA-Ländern zusätzliche Stromproduktionskapazitäten von 20 Gigawatt entstehen. Das Auswärtige Amt und das Bundesumweltministerium haben den Plan zum deutschen Herzensanliegen erklärt – schließlich spielt die deutsche Industrie nicht nur bei der Photovoltaik, sondern auch bei der Solarthermie in der ersten Liga. Aber noch gibt es weder konkrete Standorte noch Zeitpläne.

Dabei besteht Handlungsbedarf – sogar dringend. „In Europa müssen in den kommenden Jahren erhebliche Kraftwerkskapazitäten erneuert beziehungsweise ersetzt werden“, sagt Müller-Steinhagen. Das sei Problem und Chance zugleich, da dieser Prozess ja nachhaltig gestaltet werden könne. Gleichzeitig steige der Energiebedarf in der EUMENA-Region deutlich, besonders in den technisch immer weiter aufholenden MENA-Ländern. Aber selbst für Europa erwartet Müller-Steinhagen nicht, dass der Bedarf in absehbarer Zeit sinkt: „Vielleicht braucht Europa ab 2040 wegen der demografischen Entwicklung und effizienterer Technik weniger Strom – frühestens.“

„Wir brauchen eine konzertierte Aktion“, sagt Andreas Luxa, Vice President Forschung und Entwicklung der Siemens AG. „Wir sollten wenigstens in ein Projekt gemeinsam investieren, um die Akzeptanz für innovative Versorgungslösungen zu verbessern.“ Ohne Akzeptanz keine großen Investoren – und die werden dringend gebraucht: Nach DLR-Berechnungen müsste man, um im Jahr 2050 etwa 16 bis 18 Prozent des europäischen Energiebedarfs mit Hilfe der Wüstensonne zu decken, in den MENA-Ländern 100 Gigawatt Kapazität bereitstellen. Geschätzte Kosten: 350 Milliarden Euro für solarthermische Kraftwerke auf einer Fläche von 50 mal 50 Kilometer, 45 Milliarden Euro für 20 HGÜ-Leitungen à fünf Gigawatt.

Überzeugungsarbeit ist auch bei der Bevölkerung notwendig. Den Vorwurf, Europas Energiehunger mit Strom aus der Wüste zu stillen sei moderner Imperialismus, bezeichnet Müller-Steinhagen zwar als Unfug. „Solche großen Projekte lassen sich nur im Konsens realisieren – und nur, wenn alle Beteiligten davon profitieren.“ Ernster sind eher die Bedenken, Europa könne sich in neue Abhängigkeiten begeben. Dem widerspricht Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. „Sonne ist eine Flächenenergie, die Gefahr der Abhängigkeit ist daher sehr viel geringer als beim Öl.“ Öl stammt zum größten Teil aus einer geopolitisch schwierigen Region, die auch als strategische Ellipse bekannt ist und sich vom Nahen Osten über den Kaspischen Raum bis in den hohen Norden Russlands erstreckt. „Die Kraftwerke und die HGÜs sollen in vielen verschiedenen Ländern gebaut werden, um die Risiken zu streuen.“

Letztlich könnte die Akzeptanz aber auch an einer Kleinigkeit scheitern: den Leitungen. Ein HGÜ-Kabel mit einem Gigawatt Kapazität hat zwar nur etwa vier Zentimeter Durchmesser – plus Isolation. Aber eine HGÜ-Trasse, die zehn Gigawatt Leistung aus den MENA-Ländern nach Europa übertragen soll, ist wegen der notwendigen Abstände je nach Spannung bereits 100 bis 150 Meter breit – und natürlich rund 3.600 Kilometer lang. Zum Teil lassen sich die Leitungen zwar unterirdisch und damit unsichtbar verlegen, aber eben nur zum Teil. „Die Genehmigungsverfahren für solche Trassen sind in den meisten Ländern extrem umfangreich und langwierig“, sagt Andreas Luxa. „Und viele Regionen Europas sind dicht besiedelt. Eine unterirdische Trassenführung wäre aufwändig und teuer, überirdisch wird man allerdings auf Widerstände stoßen.“ Widerstände, die unbedingt überwunden werden müssen, da sind sich Andreas Luxa und Frank Behrendt einig: „Strom fließt nun mal durch Kabel.“