Continental will 100 Prozent Ergonomie
Seit 2006 steht die Ergonomie in Deutschland auf der Agenda von Continental. Seit 2015 treibt der Technologiekonzern das Thema international voran. Die Vielfalt der Standorte und Handlungsfelder zeigte jetzt die erste internationale Ergonomie-Netzwerkkonferenz in Berlin...
Eine Nachricht aus Malta wurde zum i-Tüpfelchen der mehrtägigen Ergonomie-Netzwerkkonferenz des Technologieunternehmen Continental in Berlin: Im Rahmen ihrer aktuellen Kampagne „Gesunde Arbeitsplätze für jedes Alter“ hat die Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (EU-OSHA) dem Konzern den Good Practice Award verliehen. Mit dem Preis zeichnet die Agentur Unternehmen aus, welche die Arbeitsbedingungen sowohl ihrer jungen als auch ihrer älteren Beschäftigten gesundheitsförderlich gestalten. Continental überzeugte die Jury mit ihrem Ergonomie- und Demografieprogramm, das sie seit 2006 im gesamten Konzern implementiert. Mit diesem Programm verfolgt Continental das strategische Ziel, die Beschäftigten unabhängig von Alter und Geschlecht flexibel einsetzen zu können. Dafür erfasst und bewertet das Unternehmen im Rahmen einer ergonomischen Gefährdungsbeurteilung konzernweit Belastungen mithilfe eines Belastungs-Dokumentations-Systems, danach werden die Daten analysiert und Arbeitsplätze umgestaltet. Dabei hilft nicht zuletzt eine extra eingerichtete Good-Practice-Datenbank, die inzwischen standortübergreifend mehr als 200 Beispiele enthält.
Neben themenspezifischen Ergonomieworkshops, Informationen zu Neuerungen und einem Ergonomie-Marktplatz für umsetzbare ergonomische Verbesserungen, welcher durch eine Vielzahl an Lieferanten ergonomischer Hilfsmittel gestaltet wurde, standen viele gute Beispiele im Mittelpunkt der Ergonomie-Netzwerkkonferenz in Berlin, die Continental in diesem Jahr zum ersten Mal international ausgerichtet hatte. 130 Teilnehmer von 55 Standorten in 16 Ländern diskutierten in Berlin insgesamt 53 Verbesserungen unterschiedlichster Belastungsarten. „Sehr viel besser kann Wissenstransfer aus meiner Sicht nicht stattfinden“, sagt Jörg Nimoth, der das globale Rollout des Programms Ergonomics@Continental leitet: „Persönlich hätte ich nie gedacht, dass vorher durchaus diskutierte Sprachbarrieren von niemandem auch nur im Ansatz wahrgenommen wurden. Es waren so viele verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen und mit vielfältigen Ideen, aber alle mit derselben Zielsetzung: die Arbeitsbedingungen in den Produktionen weltweit zu verbessern – zu Gunsten der Mitarbeitergesundheit und -motivation, der Qualität und Effizienz sowie der Arbeitssicherheit. Das war für alle Teilnehmer ein überwältigendes Erlebnis.“
Die 53 Beispiele aus den verschiedenen Standorten bewarben sich um den diesjährigen Ergonomie-Award der Continental, dessen Gewinner immer die Konferenzteilnehmer wählen. Den ersten Platz belegte der Continental-Standort Korbach. Bisher hatten einige Beschäftigte dort keine Möglichkeit, im Laufe einer Schicht zwischen Stehen und Sitzen zu wechseln. Das führt zu schlechten Körperhaltungen und einer starken Beanspruchung von Beinen und Rücken. Für Abhilfe sorgt der sogenannte Chairless Chair: ein von dem Schweizer Startup noonee AG entwickeltes Exoskelett, das an der Rückseite der Beine getragen wird. Die Beschäftigten befestigen den Chairless Chair mit Gurten an Hüfte oder Oberschenkel und Schuhen. Zwei mit Spezialtextil bezogene Flächen stützen Gesäß und Oberschenkel, Streben aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff passen sich der Kontur der Beine an. Sie sind mit Gelenken in Kniehöhe ausgestattet und lassen sich mechanisch an die Körpergröße des Menschen sowie hydraulisch an die gewünschte Sitzposition anpassen. Beschäftigte können so bei vielen Tätigkeiten in der Fertigung in einer ergonomisch günstigen Position sitzen, statt die ganze Zeit stehen zu müssen– selbst bei kurzen Montage-Intervallen ist Sitzen möglich. Der Chairless Chair ermöglicht es den Mitarbeitern, während des Tragens damit zu laufen bzw. sich zu bewegen und erhöht somit die Flexibilität beim Arbeiten. Gleichzeitig verbessert die Hightech-Stützstruktur die Körperhaltung und entlastet Rücken und Beine.
Eine Idee aus dem Continental-Standort im chinesischen Changchun belegte den zweiten Platz des Ergonomie-Awards. Dort mussten die Beschäftigten an einem Punkt in der Produktion ein kleines Werkstück manuell um 180 Grad drehen – und das 1500 mal pro Schicht. Diese Bewegung ist für das Handgelenk ergonomisch ungünstig, außerdem besteht immer das Risiko, dass Beschäftigten das Teil beim Handling herunterfällt. Die Optimierung erfolgte durch das Prinzip Auto Eject, also dem automatischen Auswurf des Werkstücks. Hierbei wird die Entladung der Station automatisch durchgeführt und gleichzeitig das Werkstück in eine für den Mitarbeiter gute ergonomische Position gedreht. Dies entlastet den Mitarbeiter beim Handling des Gerätes enorm und reduziert auch noch die Taktzeiten: Die Station muss nun nur noch beladen werden, und die das Handgelenk belastende Bewegung durch das Drehen des Werkstücks ist nicht mehr notwendig.
Wie positiv sich schon allein eine veränderte Arbeitsorganisation auf die Ergonomie auswirken kann, zeigt das Beispiel, mit dem der Continental-Standort Karben den dritten Platz des Ergonomie-Awards belegte. An mehreren Arbeitsplätzen – in der Frontend AOI Multi Line Prüfung und im Backend Montage Klimaanlageneinheit – waren hohe Belastungen zu verzeichnen: durch schlechte Haltungs- und Bewegungsverteilung, Blendung, Wiederholung der Tätigkeitsabläufe und Bindung an den technischen Prozess. Für Abhilfe sorgt eine Rotation der Beschäftigten. In der Frontend AOI Multi Line Prüfung finden jetzt alle zwei Stunden Wechsel mit dem Magazin-Management und dem Support beim Spleißen statt, und auch in der Backend Montage Klimaanlageneinheit haben die Beschäftigten beschlossen, zwischen ihren Plätzen zu wechseln. Diese Wechsel sind inzwischen Standard für diese Arbeitsplätze. So lassen sich eine gute Haltungs- und Bewegungsverteilung erreichen sowie eine Reduzierung der Belastung durch Monotonie, Konzentrationsanforderung, einseitige Bewegungsabläufe und Bindung an den technischen Prozess.
Die in Deutschland entstandene Idee des Ergonomie-Awards will Continental jetzt in die Regionen der Welt exportieren, in denen der Konzern tätig ist. Eine globale Ergonomie-Netzwerkkonferenz soll es künftig nur noch alle zwei Jahre geben. Zwischen diesen Konferenzen will Continental gemeinsam mit den beiden Regionalmanagerinnen für Ergonomie, Sicherheit und Gesundheit aus den USA und der Volksrepublik China drei Netzwerkkonferenzen in den Regionen Americas (Nord-, Mittel- und Südamerika), EMEA (Europa, Naher Osten, Afrika) und APAC (Asien-Pazifik) durchführen. Auch dort sollen jeweils regionale Good Practice Awards durchgeführt und verliehen werden.
„Teilen von Wissen ist ein ganz wichtiger Bestandteil“, sagt Jörg Nimoth: „Es gibt immer Diskussions- und Austauschbedarf, es gibt viele Fragen in Bezug auf die Software und deren Optimierung. Und natürlich brauchen wir auch in den Regionen den aktuellsten Stand der Wissenschaft und Technik in Bezug auf ergonomische Grundlagen und Möglichkeiten.“ Die drei Sieger der jeweiligen Regionalkonferenzen nehmen daher automatisch im Folgejahr – neben weiteren gewählten Beispielen – an der Endrunde während der globalen Netzwerkkonferenz teil.
Im Jahr 2015 hat Continental nach der erfolgreichen Einführung des Ergonomie-Projektes für Produktionsbereiche an den deutschen Standorten den globalen Rollout gestartet – zunächst an den Standorten der Automotive-Divisionen, die im Verbund Central Electronic Plants (CEP) organisiert sind. „Dazu wurde eigens und zusätzlich zum konzernzentralen Ergonomie-Team eine koordinierende Stelle für den Rollout der CEP-Standorte eingerichtet“, erklärt Jörg Nimoth. Ein Jahr später habe die Reifendivision auf gleiche Weise mit dem globalen Rollout begonnen. Sowohl die Elektronikwerke (CEP) als auch die Reifendivision werden Nimoth zufolge bis Ende 2017 die notwendigen Initialtrainingswochen in allen zugehörigen Standorten durchgeführt haben. Diese Initialtrainingswochen beinhalten zuerst eine Basiswissensschulung der Ergonomie, beispielsweise Grundlagen zu Anthropometrie, also zu neutraler Körperhaltung und Gelenkstellung, zu den tätigkeitsbezogenen Analysemethoden wie Ziehen und Schieben, Heben, Halten und Tragen sowie zu manuellen Tätigkeiten. Aber auch die Grundlagen zu organisatorischen Belastungen – kurzzyklisch repetitive Tätigkeiten, Bindung an den Arbeitsprozess, hohe Verantwortung für das Produkt und den Prozess etc. – werden vermittelt. Umgebungsbedingungen wie Beleuchtung, Lärm, Klima und Vibrationen oder die Belastungen durch das Tragen persönlicher Schutzausrüstung gehören ebenfalls zu den behandelten Themen. Außerdem wird das Belastungs-Dokumentations-System am Standort installiert und der Kreis der BDS-Kernnutzer intensiv für den Einsatz dieser Software geschult.
„Damit das Ergonomie-Team des jeweiligen Standorts seine Arbeit in Zukunft überhaupt gewinnbringend umsetzen kann, ist es dringend erforderlich, die Entscheider für Investitionen und Strategien mit an Bord zu holen“, betont Nimoth: „Am Anfang einer Initialtrainingswoche stehen daher das Warum und Weshalb ganz oben auf der Agenda, bevor wir mit dem Was und dem Wie beginnen. Dabei geht es um die Zustimmung des Managements, damit das Team in der Zukunft auch Unterstützung erfährt.“
In Deutschland, wo zurzeit rund 20 Prozent der gut 110.000 Produktionsbeschäftigten von Continental weltweit arbeiten, kann der Konzern im Bereich Ergonomie schon mit den Kennzahlen wie beispielsweise Altersstabilitätsrate und physische Belastungsrate steuern. Langfristig soll das auch international möglich sein. Das ergonomische Grundlagenwissen aus den Trainings und das Belastungs-Dokumentations-System als ergonomische Risikobeurteilung im Rahmen des Projekts Ergonomics@Continental stehen Nimoth zufolge aktuell rund der Hälfte aller Beschäftigten in den Produktionen weltweit zur Verfügung. Das große Ziel ist jedoch ganz klar: 100 Prozent Rollout, 100 Prozent Ergonomie weltweit.