Der schlafende Riese erwacht
Das Umwelt- und Sozialbewusstsein vieler Menschen steigt. Daher achten auch beim Einkaufen immer mehr Kunden neben der Qualität auf Aspekte wie gerechte Löhne oder ökologisch verträgliche Produktionsbedingungen. Ein Trend, den Unternehmen nicht unterschätzen dürfen – zumal sich daraus vielfältige Vorteile und Chancen ergeben...
Eine ausgediente Öllager- und Verladeplattform im Nordatlantik veränderte 1995 die Welt. Denn als die Brent Spar vor der schottischen Küste versenkt werden sollte, wurden die Kritiker des Vorhabens nicht nur laut, sondern auch aktiv: Parteien, Verbände und Kirchen in mehreren Nordsee-Anrainerstaaten riefen zum Boykott des Ölkonzerns Shell auf, Unternehmen und Behörden gaben sogar entsprechende Dienstanweisungen heraus. Die ebenso unerwartete wie heftige Protestwelle hatte Folgen. Innerhalb weniger Wochen brach der Umsatz der Shell-Tankstellen dramatisch ein – daraufhin beschloss der Konzern, die Plattform an Land zu entsorgen, und versprach in einer großen Werbekampagne „Wir werden uns ändern“. Konzernverantwortliche und Kunden weltweit haben in diesen turbulenten Wochen (genau wie Shell) eines gelernt: Kritische Konsumenten können Unternehmen in Bedrängnis bringen und deren Entscheidungen beeinflussen.
Ihren Geschäftspraktiken und dem Eindruck, den diese auf ihre Kunden machen könnten, schenken Hersteller und Händler seit dieser Protestwelle, die als die „Mutter aller Konsumentenproteste“ gilt, immer mehr Aufmerksamkeit. Aus gutem Grund, beobachtet Carsten Schmitz-Hoffmann. „Die großen Brands können es sich gar nicht mehr leisten, nicht nachhaltig zu produzieren“, sagt der Leiter der GIZ-Einheit für Wirtschaftskooperationen. „Schon aus purem Eigennutz müssen die Konzerne Reputation und Image schützen.“ Zum einen sorgen inzwischen eine Vielzahl von Nichtregierungs- und Verbraucherorganisationen, Websites und sozialen Netzwerken für ständige Beobachtung. Zum anderen ist der Kauf sozial und ökologisch produzierter Waren längst vom Thema einer engagierten Randgruppe in die breite Öffentlichkeit gelangt.
Zwischen Haltung und Handeln klafft zwar immer noch eine Lücke, wie eine im Juli vorgestellte internationale Konsumentenstudie des Marktforschungsinstituts ipsos zeigt. Demnach erwartet eine große Mehrheit der 18.000 Befragten aus 24 Ländern, dass Unternehmen mehr auf die Umwelt achten (89 Prozent) und einen größeren gesellschaftlichen Beitrag leisten (84 Prozent). Aber nur drei von zehn Befragten finden es für ihre Kaufentscheidung wichtig, dass das Produkt oder die Dienstleistung zu einem hohen Grad sozial verantwortlich produziert wurde. Trotzdem spielt der „politische Konsument“, den der Soziologe Ulrich Beck 2002 in seinem Buch „Macht und Gegenmacht im digitalen Zeitalter“ identifizierte und damals noch einen „schlafenden Riesen“ nannte, eine wachsende Rolle. Schmitz-Hoffmann beschreibt die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre als Evolution: „Am Anfang waren Vereine und Bürgerinitiativen im Bereich fairer Handel aktiv, die damit oft eine politische Botschaft verbanden, zum Beispiel mit dem Verkauf von Kaffee aus Nicaragua. In den 90er Jahren griffen die Marken-Hersteller das Thema auf. Und seit der Jahrtausendwende ist der Einzelhandel sehr aktiv, was den Trend enorm befördert hat.“
Das aktuelle Gewicht von Konsumenten und Handel zeigt beispielsweise der aktuelle Jahresbericht der Organisation Fairtrade International, deren Mitgliedsverbände weltweit für rund 300 verschiedene Produkte wie Kaffee und Tee, Zucker und Kakao, Reis und Nüsse oder Baumwolle und Fußbälle das Fairtrade-Siegel vergeben. Für 4,8 Milliarden Euro haben Konsumenten demnach im Jahr 2012 Fairtrade-Produkte gekauft, fünf Jahre zuvor waren es erst 2,3 Milliarden Euro. Vor allem in den Schlüsselmärkten sind die Absätze 2012 im Vergleich zum Vorjahr signifikant gestiegen, dazu gehören Deutschland (33 Prozent), Schweden (28 Prozent), die Niederlande (26 Prozent), die Schweiz (15 Prozent) und Großbritannien (16 Prozent). Allein in Deutschland haben 42.000 Geschäfte und 20.000 gastronomische Betriebe Fairtrade-Waren im Angebot.
Für den Entwicklungsökonom Hans Heinrich Bass, der sich an der Universität Bremen unter anderem mit fairem Handel befasst, ist ein solcher Umsatzanstieg wie bei Fairtrade-Produkten im Konsumgüterhandel „schon einmalig“. Im Nahrungsmittelhandel habe der Weg des Fairtrade-Konzepts von einem Nischenmarkt, in dem eine Handvoll politischer Aktivisten tätig war, zu einem beachtlichen Marktsegment geführt. Ein Ende der Erfolgsgeschichte ist seiner Meinung nach nicht absehbar. „Vom Verbraucher akzeptierte Qualitätssiegel führen zu einem sich selbst verstärkenden Prozess“, erläutert der Volkswirtschaftsprofessor. „Immer mehr Anbieter möchten an diesem wachsenden Marktsegment teilhaben. Dadurch nehmen sowohl die Menge des Angebotes als auch seine Vielfalt zu. Und darauf wiederum werden die Nachfrager reagieren und öfter zu dieser Marke greifen – was wieder mehr Anbieter auf den Plan ruft.“
Mehr Anbieter gibt es jedoch nicht nur für Produkte, sondern auch für Label und Siegel. Die größte Organisation, die für die Zertifizierung von Produkten und Produzenten und die unabhängige Überprüfung der Einhaltung der Kriterien verantwortlich ist, ist die internationale Dachorganisation Fairtrade International. Andere Non-Profit-Organisationen wie das Marine Stewardship Council (MSC) oder das Forest Stewardship Council (FSC) konzentrieren sich auf Fisch- und Holzwirtschaft. Hinzu kommen Importorganisationen mit eigenem Logo – beispielsweise gepa, El Puente und dwp – und Handelsketten mit speziellen Eigenmarken – beispielsweise Fairglobe, One World oder Think fair. Solche Gütesiegel oder Labels machen Produkte, die aus fairem Handel stammen oder bei deren Herstellung Umwelt- und Sozialstandards greifen, für die Verbraucher als solche erkennbar. In vielen Fällen sind sie ein unverzichtbares Hilfsmittel, denn Industrialisierung und Globalisierung haben die Nähe von Herstellung und Konsum aufgelöst und die Warenproduktion weitgehend unsichtbar gemacht. Allerdings nimmt die Zahl der Standards und Label so rasant zu, dass es für Verbraucher immer schwieriger wird, den Überblick zu behalten.
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