Die tödliche Welt der Schwerkraft
Wer ungesichert in luftigen Höhen arbeitet, dessen Leben und Gesundheit hängen lediglich am sprichwörtlichen seidenen Faden. Angebracht wäre jedoch ein solides Zwölf-Millimeter-Kernmantelseil. Industriekletterer Matthias Knappik vermittelt daher regelmäßig Solarteuren den richtigen Umgang mit Leinen und Gurten, Haken und Ösen...
Für einen langen Moment ist es sehr still im Seminarraum. Sonnenstrahlen schieben sich zwischen den Lamellen der fast geschlossenen Rollos hindurch, die zehn Männer rund um den rechteckigen Resopaltisch begutachten konzentriert ihre Kaffeetassen oder die gegenüberliegende Wand, nur eine Thermoskanne seufzt. Verantwortlich für die Stille ist eine einfache Frage, die Referent Matthias Knappik den gestandenen Handwerkern gestellt hat: „Wann benutzt ihr bei der Arbeit auf dem Dach eigentlich einen Auffanggurt?“ Einer bricht schließlich das Schweigen: „Wenn ich alles andere für mich und meine Familie nicht mehr verantworten kann.“ Von der Theorie des Arbeitssicherheitsgesetzes sowie der berufsgenossenschaftlichen Vorschriften ist diese Antwort natürlich weit entfernt. Dafür ist sie nah dran an der Praxis vieler Solarteure.
Matthias Knappik kennt diese Realität: Der Industriekletterer arbeitet seit 1995 selbstständig im Solarbereich, er hat sich auf Montagen, Fehlersuche und Reparaturen spezialisiert. Und da er auch zertifizierter Höhenarbeiter und Sachkundiger für persönliche Schutzausrüstung gegen Absturz (PSAgA) ist, gibt er – unter anderem für den in Hannover ansässigen Fachgroßhändler AS Solar, aber auch für andere Unternehmen oder Auftraggeber – regelmäßig Seminare zum Thema Sicherheit auf dem Dach. Formell handelt es sich dabei um eine Arbeitsschutzunterweisung zur Verwendung von PSAgA, die laut Rechtslage mindestens einmal im Jahr absolviert werden muss. Praktisch geht es darum, den Teilnehmern nicht nur die rechtlichen Vorschriften zu vermitteln, sondern auch Orientierung im Gewirr der Seile, Gurte und Haken einer PSAgA sowie praktische Tipps, um deren Anwendung zu erleichtern – und das nicht nur im Seminarraum, sondern auch auf dem Dach von Knappiks altem Bauernhaus in Bad Münder.
Den Theorieteil hält Matthias Knappik an jenem sonnigen Freitag im April bewusst kurz. Aber er ist lang genug, um bei den Seminarteilnehmern für große Augen zu sorgen. Zum Beispiel weil bei Arbeiten auf geneigten Dächern schon ab drei Meter Absturzhöhe eine entsprechende Absturzsicherung vorgeschrieben ist – also im Grunde immer. Und das ist auch gut so, meint Knappik: „Die Module und sich selbst auf das Dach zu bekommen, ist eine eher unspektakuläre Angelegenheit. Knackpunkt ist das Runterfallen. Bis drei Meter Höhe tut ein Absturz noch weh, darüber nicht mehr.“ Was er meint, aber so nicht sagt: Unter Umständen tut nach einem Sturz aus größerer Höhe nie mehr etwas weh, wenn nicht ein Gerüst, eine Hubarbeitsbühne oder spezielle Netze den Fall abfangen – oder eben eine PSAgA. Und „mir passiert schon nix“ ist nach Knappiks Erfahrung keine gute Devise. Es sind schließlich auch schon Meister vom Himmel beziehungsweise vom Dach gefallen.
Das zeigen auch Zahlen der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM), bei der – neben den Berufsgenossenschaften Bau sowie Metall und Holz – ein großer Teil der Solarteure in Deutschland versichert ist: Im Jahr 2010 verzeichnete allein die BG ETEM 123 meldepflichtige Arbeitsunfälle beim Aufbau oder der Wartung von Photovoltaikanlagen, davon zwei mit tödlichem Ausgang. Die Ursache der meisten Unfälle waren Abstürze vom Dach und Durchstürze wegen nicht tragfähiger Dacheindeckungen – und die Nachlässigkeit der Beteiligten in Sachen Sicherheit, denn mit Absturzsicherung kein Absturz. „Die Verantwortung für die sachgemäße und sichere Errichtung von Photovoltaikanlagen liegt bei dem mit diesen Arbeiten beauftragten Unternehmer“, betont Jens Jühling, Präventionsmanager der BG ETEM.
„Mit den rechtlichen und technischen Pflichten und Voraussetzungen muss natürlich jeder Solarteur vertraut sein“, mahnt auch Knappik. Er hat für die Seminarteilnehmer der AS-Solar-Akademie dazu umfangreiches Material zusammengestellt. Für mindestens ebenso wichtig hält er allerdings, dass jeder Solarteur auch praktisch genau weiß, was er – parallel zur Installation der Anlage – auf dem Dach tut. Einfach so darf nämlich niemand mit Gurt und Seil auf den Ziegeln herumkrabbeln: Vorher ist eine kompetente Einweisung in die Ausrüstung Pflicht. Und auch wenn eine PSAgA immer besser ist als gar keine Sicherung: Sie ist keineswegs erste Wahl. Die Betriebssicherheitsverordnung beispielsweise schreibt vor, Arbeitsmittel auszuwählen, die am geeignetsten sind, während der Benutzung auf Dauer sichere Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Das bedeutet: Gerüst statt Leiter, Brüstungen oder Fangnetze statt Anseilschutz. Eine PSAgA darf als alleinige Sicherung nur dann verwendet werden, wenn die Erstellung eines Gerüstes oder Fangnetzes länger dauert als die durchzuführenden Arbeiten oder wenn beides aus technischen Gründen nicht möglich ist. Und: Wenn ein Anseilschutz eingesetzt wird, muss auch klar sein, wie die Person im Falle eines Absturzes innerhalb von maximal 20 Minuten wieder sicheren Boden erreicht; die Rettungsausrüstung dafür muss bereitstehen.
So viele Regeln? Da umwölken sich die Mienen der Seminarteilnehmer nicht nur während der Rauchpause. Aber als Matthias Knappik dann in seinen reichen Fundus greift und Auffanggurte und Seile, Karabinerhaken und Falldämpfer, Materialschlingen und mitlaufende Auffanggeräte, Helme und Anschlageinrichtungen auspackt, sind die Bedenken wieder vergessen. Obwohl es auch da wieder einige Regeln gibt: Zum einen muss jede PSAgA vom Hersteller mit einem sogenannten EG-Konformitätszeichen versehen sein, also dem Kürzel CE (für Communauté Européenne) plus Kennnummer der überwachenden Stelle. Und jeder lösbare Bestandteil eines Systems muss mit Typbezeichnung, Herstellungsjahr, Namen, Zeichen oder anderen Kennzeichen des Herstellers oder Lieferanten, Serien- oder Herstellnummer, Nummer der entsprechenden EN-Norm sowie einem Piktogramm gekennzeichnet sein, das zeigt, dass die Benutzer die vom Hersteller gelieferten Informationen lesen müssen. Zum anderen müssen für alle verwendeten Komponenten die Bedienungsanleitungen aufbewahrt werden, in denen wesentliche Aspekte wie das Alter der Teile und deren jährliche Überprüfung vermerkt werden. Knappik: „Die Bedienungsanleitung ist wie ein Kfz-Schein.“ Er rät, das Original im Büro abzuheften und eine – am besten laminierte – Kopie ins Auto oder direkt zur Ausrüstung zu legen. „Aber nicht alles in eine Kiste, in der die dreckigen Teile dann vor sich hin gammeln.“ Schließlich müssen die Komponenten – auch das ist Vorschrift – in trockenen, nicht zu warmen Räumen sauber und frei hängend aufbewahrt werden, geschützt vor direktem Licht und UV-Strahlung sowie aggressiven Stoffen wie Laugen oder Ölen. Knappiks Tipp zur Schonung der Komponenten auf meist weder sauberen noch trockenen Baustellen: eine Decke oder ein Stück Teppich mitnehmen, worauf die Ausrüstung ausgepackt, sortiert und angelegt werden kann.
Denn ein bisschen kompliziert ist es schon, die wichtigsten Komponenten einer PSAgA auseinanderzuhalten und richtig einzusetzen. Das fängt schon beim Auffanggurt an, also dem Geschirr, das der Handwerker am Körper trägt. Wo unten ist, ist schnell klar, schließlich sind da die Beinschlaufen. Aber wo ist vorn, wenn sowohl vorne als auch hinten eine Fangöse sitzt? Jedenfalls nicht da, wo der Rückengurt ist, der muss nach hinten. Und schon lässt sich der Auffanggurt problemlos über die Schultern ziehen und vorne schließen. Eine Fangöse vor der Brust findet Matthias Knappik übrigens für Solarteure bei den meisten Tätigkeiten sehr viel praktischer als eine Rückenöse. „Wenn man von einer hinteren Fangöse gehalten wird, prallt man bei einem Sturz unter Umständen ungünstig aufs Dach oder gegen eine Mauer – und weil man die Hände kaum einsetzen kann, hängt man dann auch noch hilflos im Seil und kann nichts tun, um sich aus dieser Lage zu befreien.“ Ob das Teil einen Rückengurt hat oder gepolsterte Beinschlaufen, hängt von den Vorlieben des Trägers ab. „Über eine gute Polsterung freut man sich natürlich vor allem bei einem Absturz“, sagt Knappik. „Wichtig ist, dass man seinen Gurt bequem findet und sich darin vernünftig bewegen kann. Das erhöht nicht nur die Akzeptanz, sondern erleichtert auch die Arbeit.“
Da viele Unternehmen beim Einkauf der Ausrüstung vor allem auf den Preis schauen, findet es Knappik sinnvoll, selbst in eine eigene PSAgA zu investieren, die dann auch genau zum individuellen Nutzer passt und beispielsweise an den Seiten genügend Taschenringe und Halteösen hat. „Wenn sich der Akkuschrauber oder Befestigungsmaterial am Gurt unterbringen lassen, fällt mir nichts mehr vom Dach, außerdem habe ich die Hände frei für die Arbeit. Und Harakiri-Nummern, bei denen man mit einem Fuß auf der Leiter steht und mit dem anderen in der Regenrinne, die Schrauben links in der Hand hat und den Akkuschrauber rechts und sich selbst und das Modul mit der Kraft seiner Gedanken festhalten muss, sind Geschichte.“
Stattdessen verhindern Halteschlingen und Seile einen Sturz. Direkt am Auffanggurt sitzt ein sogenanntes Verbindungsmittel, meistens ein Karabinerhaken und ein höchstens zwei Meter langes Seil. Und dessen Ende wird, wiederum mit einem Karabinerhaken, entweder direkt an einem Anschlagpunkt befestigt – was sicheres Arbeiten in einem kleinen Radius möglich macht – oder an einem sogenannten mitlaufenden Auffanggerät. Dieses Gerät läuft an einem horizontalen oder vertikalen Fixseil mit, so dass sich der Handwerker auf dem Dach nicht ständig neu anschlagen muss. Bei einem Sturz, also einer ruckhaften Bewegung, blockiert das Auffanggerät ähnlich wie ein Sicherheitsgurt im Auto und stoppt den Fall. Bei den Karabinerhaken lohnt sich übrigens ein Blick auf die Mechanik: Schnapper sind reine Materialkarabiner, für die Personensicherung muss der Verschluss nochmals gesichert sein. Trotzdem lassen sich auch solche Karabiner mit einer Hand bedienen, selbst mit Handschuh.
Häufig sind ohnehin nicht die Karabiner das Problem, sondern das, woran letztlich die gesamte PSAgA hängt: der Anschlagpunkt, der immerhin zehn Kilonewton standhalten muss, also der Gewichtskraft von einer Tonne. Damit scheiden Dachlatten von vornherein aus. Und von Experimenten – zum Beispiel das Seil über den Dachfirst hinweg auf die andere Hausseite zu führen und dort an einem Baum oder dem Firmen-Lkw zu befestigen – rät Knappik dringend ab, „so ein Trockenfirst ist schnell zerbröselt“. Dachhaken aus dem Solarbereich sind seiner Erfahrung nach zwar geeignet, eine Person im Stillstand zu halten, brechen jedoch bei der Belastung durch einen Sturz oder reißen mit ihren Schrauben aus dem Sparren. Und Sicherheitsdachhaken taugen nur, wenn sie ordentlich eingebaut und nicht lediglich eingehängt werden.
Knappik empfiehlt, professionelle Ankerpunkte auf dem Dach zu montieren. „Die verursachen keine Extrakosten, denn sie lassen sich mit guten Argumenten dem Hausbesitzer verkaufen: Wenn man deren Positionen markiert oder sogar in die Bauzeichnung einträgt, können die Ankerpunkte auch später für andere Dach- oder Wartungs- und Reinigungsarbeiten an der Solaranlage verwendet werden.“ Und wenn das doch nicht klappt und der Solarteur daher nicht mit vergleichsweise teuren Ankerpunkten arbeiten will, hat Knappik auch Kompromissvorschläge in petto. Eine Möglichkeit ist, einen Ziegel hochzuschieben und eine Bandschlinge um den Sparren zu legen; darin lässt sich dann der Karabinerhaken einhängen. Als Variante lässt sich im Sparren auch eine zwölfer Schraube oder eine M16-Ringöse für den Karabiner befestigen. Kleiner Wermutstropfen: „Holz ist immer eine Lotterie. Aber man spürt ja, wie sich die Schraube reindreht und ob man dem trauen kann.“
Vergleichsweise einfach in der Handhabung ist ein Helm, der immer dann notwendig wird, wenn einem etwas auf den Kopf fallen oder man gegen etwas prallen kann. Auf dem Dach erfreuen sich Helme geringer Beliebtheit, speziell bei Sonne, da es zu Kopfschmerzen und Kreislaufproblemen kommen kann. Das weiß auch Knappik. Für alle, die unterhalb des eigentlichen Baustellenniveaus arbeiten, weil sie beispielsweise den Kollegen auf dem Dach Module oder Werkzeug anreichen, lässt er allerdings keine Entschuldigung gelten: „Der Grounder arbeitet nur mit Murmel. Punkt.“ Und noch ein Rat in Sachen Sonne: „Auch Getränke wie Wasser oder Apfelschorle gehören zum Arbeitsschutz, sonst kippen die Leute um.“ Er empfiehlt PET-Flaschen: Sie lassen sich mit Materialschlingen wie auch anderes Werkzeug leicht anseilen und gehen nicht zu Bruch.
Alle Teile wandern von Hand zu Hand, werden gewogen und gewendet, geöffnet und geschlossen und schließlich an- und ausprobiert. Zum Abschluss des Seminars auch auf dem Dach des alten Bad Münder Bauernhauses. Viel Zeit, von den roten Ziegeln aus die Aussicht über das idyllische Calenberger Bergland zwischen den Höhenzügen Süntel und Deister zu genießen, bleibt nicht: Knappik hat einen Kanister mit 60 Litern Wasser in die Nähe des Firstes bugsiert – ein hilfloser Kollege, den es schnell zu retten gilt, natürlich ohne die eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen oder sich in den diversen Seilen zu verheddern. Denn Schwerkraft ist nicht nur bei einem ungebremsten Sturz gefährlich: Beim Hängen im Auffanggurt droht nach wenigen Minuten ein Kreislaufzusammenbruch, der zum Tod führen kann, ein sogenannter orthostatischer Schock. Und siehe da: Das Handling von Karabinern, Seilen und dem Auffanggerät funktioniert – jetzt, da alle Komponenten und Handgriffe klar sind – ohne größere Schwierigkeiten auch auf dem Dach.
Zum Schluss wiederholt Knappik die Frage, die zu Beginn des Seminartages das große Schweigen ausgelöst hatte. „Wann benutzt ihr bei der Arbeit auf dem Dach einen Auffanggurt?“ Die einhellige Antwort gefällt ihm diesmal doch deutlich besser: „Immer, wenn es nötig ist.“