Exoskelette I: Gerüstet für den Arbeitsplatz
Um ihre Beschäftigten länger gesund zu halten, testen immer mehr Betriebe Exoskelette – vor allem in der Produktion, aber auch in der Logistik oder im Handwerk. Neben vielen Chancen zeigen diese Tests jedoch auch Probleme mit den futuristisch anmutenden Hilfsmitteln...
Toyota-Beschäftigte müssen sich auf eine Erweiterung ihrer persönlichen Schutzausrüstung einstellen – zumindest wenn sie in den nordamerikanischen Werken Woodstock oder Princeton beschäftigt sind und häufig Überkopfarbeiten ausführen. Dort gehören seit diesem Jahr nicht mehr nur Schutzbrille, geschlossene Schuhe oder Ohrstöpsel zur obligatorischen PSA, sondern auch ein Exoskelett: Wie Toyota mitteilt, soll das Airframe des US-Herstellers Levitate dazu beitragen, Verletzungen und Erkrankungen bei den Beschäftigten vorzubeugen. Denn das wie ein Rucksack zu tragende mechanische Gerüst soll bei Überkopfarbeit das Gewicht auf die Körpermitte verteilen und die Bewegungssequenzen bei der Montage unterstützen, um die Ermüdung der Muskulatur zu verlangsamen und insgesamt das Muskel-Skelett-System zu entlasten. Auch bei BMW im US-Bundesstaat South Carolina können sich Arbeiter vom Airframe unter die Arme greifen lassen, verpflichtend ist die Nutzung des Exoskeletts dort allerdings nicht.
In Deutschland kommen Exoskelette an gewerblichen Arbeitsplätzen bislang vor allem im Rahmen von Ergonomieprojekten zum Einsatz. Ralf Schick befasst sich als Leiter des Sachgebiets Physische Belastungen der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) sowie im Fachbereich Handel und Logistik der DGUV seit rund vier Jahren mit Exoskeletten und deren Verwendung. Nach seinem Kenntnisstand werden Exoskelette in deutschen Unternehmen bislang nicht im Regelbetrieb eingesetzt. Aber Schick beobachtet in Betrieben intensive Testphasen unterschiedlicher Prototypen, die von immer mehr Anbietern auf den Markt gebracht werden. Sogar ein internationaler Verband der Exoskelett-Industrie (VDEI) hat sich inzwischen gegründet – 2019 im Rahmen der Berliner Digitalkonferenz re:publica.
Für den militärischen Einsatz werden Exoskelette bereits seit langem weltweit intensiv entwickelt und getestet, auch in der medizinischen Rehabilitation sind solche Systeme weit verbreitet. Vorreiter für die Verwendung an gewerblichen Arbeitsplätzen sind Produktions- und Logistikunternehmen, allen voran die Automobilindustrie. Volkswagen beispielsweise hat gemeinsam mit dem Prothetik-Spezialisten Ottobock seit 2012 das System Paexo Shoulder entwickelt, um die Werker bei der Überkopf-Montage ergonomisch zu entlasten. Seit Oktober 2018 ist Paexo auf dem Markt. Ähnlich wie das Airframe-System wird Paexo wie ein Rucksack angelegt; das Gewicht der erhobenen Arme wird über Armschalen mithilfe einer mechanischen Seilzugtechnik auf die Hüfte abgeleitet. Das soll Muskeln und Gelenke im Schulterbereich entlasten und Tätigkeiten über Kopf komfortabler machen. Gleichzeitig sollen Nutzer mit dem Exoskelett gehen, sitzen und auch Gegenstände aufheben können. Erste Tests sind dem Unternehmen zufolge positiv verlaufen, der Einsatz in weiteren Werken sei daher geplant.
Auch das Industriemontage-Unternehmen Thor hat Paexo Shoulder Ende 2018 auf seinen Baustellen getestet, unter anderem im Heizungs-, Elektro- und Rohrleitungsbau. Laut Geschäftsführer Kersten Thor waren die Mitarbeiter von der sofortigen Entlastung der Muskulatur begeistert. Bei staubigen und schmutzigen Umgebungen habe es keine Probleme mit der Funktionalität gegeben, und bei Kälte hätten die Beschäftigten Jacken darüber oder darunter tragen können. Es habe jedoch eine Weile gedauert, bis sich die Mitarbeiter an das neue Hilfsmittel gewöhnt hätten.
Volkswagen-Tochter Audi hat gleich mit unterschiedlichen Exoskelett-Varianten (siehe Kasten) Tests durchgeführt: unter anderem mit dem Chairless Chair, der Werkern das Sitzen ohne Stuhl ermöglicht, mit dem aktiven Hand-Exoskelett Bioservo, mit den Systemen Airframe, Paexo und SkelEx bei Überkopftätigkeiten und mit dem Oberkörper-Exoskelett Laevo an Arbeitsplätzen in der Logistik und der Produktion. Weitere Test zum Beispiel mit dem Cray X in der Logistik sollen folgen. Den Chairless Chair hat das Unternehmen inzwischen für den Praxiseinsatz freigegeben, für die Freigabe weiterer Varianten scheint es noch zu früh zu sein. Das zeigt eine Feldstudie, in der Audi Vorteile und Schwierigkeiten beim Einsatz von Exoskeletten am Beispiel des Systems Laevo aufgeschlüsselt hat.
„Die Untersuchungsergebnisse offenbaren das Potenzial von Exoskeletten als ergonomische Unterstützungssysteme“, so Co-Autor Ralph Hensel. Laevo könne sowohl bei dynamischen Umsetzvorgängen als bei auch statischer Haltungsarbeit in vorgebeugter Körperhaltung die Belastung des unteren Rückens zu reduzieren. Dafür werde ein Teil des wirkenden (Last-)Gewichtes über ein Brustpad aufgenommen und über eine Federstruktur mit Gasdruckdämpfern vorbei an Rücken und Hüfte über Oberschenkelauflagen in die Beine eingeleitet. Die Nutzer hätten jedoch über Schwitzen, Reibung und Druckempfinden im Bereich der Körperkontaktstellen an Schultern, Brust und Oberschenkeln sowie über das Eigengewicht des Systems geklagt. Außerdem sei wegen der Lastumverteilung, insbesondere in Brust, Oberschenkel und Knie, von einer dauerhaften Nutzung abzuraten, um möglichen negativen Langzeitfolgen entgegenzuwirken. Trotzdem sieht Hensel insgesamt in Exoskeletten einen vielversprechenden Ansatz, um die ergonomischen Bedingungen der Mitarbeiter zu verbessern und tätigkeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen vorzubeugen.
Die Daimler AG hat ebenfalls verschiedene Exoskelette in allen produzierenden Sparten getestet, darunter neben dem Chairless Chair auch Laevo sowie Airframe, Paexo und SkelEx. „Bei Arbeitsplätzen mit einem hohen Zeitanteil in statisch nach vorn gebeugter Körperhaltung wird das Laevo von den Mitarbeitern gut angenommen“, sagt Stephen Moser von der Internen Beratung bei Daimler. Oft sei jedoch insbesondere bei Fließbandarbeitsplätzen der Anteil jener Arbeitsinhalte, bei denen das Laevo entlastend wirke, geringer als der Anteil, bei denen es als störend empfunden werde. Die Exoskelette Airframe, Paexo und SkelEx hat Daimler als schnelle Mittel zur ergonomischen Entlastung identifiziert. Als Probleme nennt Moser die hohen Kosten für einen Serieneinsatz, da meist ein individuelles Exemplar pro Mitarbeiter notwendig sei, den hohen Betreuungsaufwand während der Einführung, die mögliche Entstehung von zusätzlichen (Unfall-)Gefahren und die ungeklärten Langzeitauswirkungen. Und obwohl alle Exoskelette eine für den Mitarbeiter spürbare Entlastung in besonders beanspruchten Körperregionen mit sich bringen: „Die Mehrheit der Produktionsmitarbeiter bleibt bisher gegenüber einer Exoskelett-Nutzung skeptisch“, so Moser. In dieser fehlenden Akzeptanz sieht er ein wesentliches Hemmnis für die weitere Verbreitung von Exoskeletten: „Selbst ein kurzzeitiges Testen der Geräte wird vielfach abgelehnt.“
Diese Skepsis begegnete auch Andreas Tautz. Der Chief Medical Officer bei der Post DHL Group testete im Leipziger Luftfrachtzentrum zwei Laevo-Varianten. An dem Standort bewegt beispielsweise ein sogenannter Aufleger, der Frachtstücke von Hand aus einem Container holt und auf ein Verteilband legt, bis zu 4800 Pakete pro Schicht. Bei dem freiwilligen Testen der Exoskelette hätten die Beschäftigten durchaus eine Entlastung von Rücken- und Nackenbereich gespürt, sich bei den Bewegungsabläufen jedoch auch eingeschränkt gefühlt. Der Test wurde nach vier Wochen abgebrochen – wegen mangelnder Akzeptanz. „Das, was wir erreichen wollten, nämlich Entlastung, das wird empfunden“, so Taut: „Trotzdem ist das Exoskelett nicht angenommen worden.“
Diese Beobachtung passt zu einem weiteren Ergebnis, zu dem Ralph Hensel von Audi in seiner Feldstudie gekommen ist. „Die Entwicklung von Exoskeletten scheint primär technologisch getrieben zu sein, da der Fokus stark auf der mechanischen Wirksamkeit der Systeme liegt“, so Hensel: „Jedoch muss der Nutzer in den Mittelpunkt sowohl der Entwicklung als auch der Pilotierung und Implementierung von Exoskeletten rücken.“
Exoskelette – Formen und Beispiele
Exoskelette sind am Körper getragene äußere Stützstrukturen beziehungsweise Assistenzsysteme. Einige können den ganzen Körper unterstützen, die meisten sind jedoch nur für einen Körperbereich oder bestimmte Muskelgruppen oder sogar nur für ein besonders belastetes Gelenk vorgesehen.
■ Passive Exoskelette funktionieren rein mechanisch, beispielsweise über Federsysteme: Laevo: Das Oberkörper-Exoskelett unterstützt den unteren Rücken beim Heben von Lasten und bei der Rumpfvorneigung SkelEx/Airframe: Die Oberkörper-Exoskelette unterstützen Arme und Schulter bei Arbeiten über Schulterhöhe Chairless Chair: Das Bein-Exoskelett entlastet die Beine und ermöglicht kurze Sitzpausen Paexo: Je nach Ausführung (Thumb, Wrist, Shoulder) unterstützt das Exoskelett Daumenend- und -sattelgelenke bei der Montage, das Handgelenk bei der Lastenhandhabung oder Schultergelenke und Oberarme bei der Überkopfarbeit Suitx Max: Das Ganzkörper-Exoskelett unterstützt obere und untere Extremitäten beim Heben von Lasten, bei Arbeiten über Schulterhöhe und bei der Rumpfvorneigung Fortis Exoskeleton: Das Ganzkörper-Exoskelett unterstützt obere und untere Extremitäten beim Heben und Halten von schweren Werkzeugen sowie bei Arbeiten über Schulterhöhe
■ Aktive Exoskelette, oft auch Roboteranzüge genannt, verfügen über Sensoren und elektrische oder pneumatische Antriebe, für die auch eine Energieversorgung notwendig ist: Cray X: Das Oberkörper Exoskelett unterstützt den unteren Rücken beim Heben von Lasten und bei der Rumpfvorneigung Exo Jacket: Das Oberkörper-Exoskelett unterstützt Arme und Schulter bei Arbeiten über Schulterhöhe HAL-Lumbar: Das Lendenwirbelsäule-Exoskelett unterstützt den unteren Rücken beim Heben von Lasten und bei der Rumpfvorneigung HAL-Roboteranzug: Das Ganzkörper-Exoskelett unterstützt obere und untere Extremitäten beim Heben von Lasten.