Exoskelette II: In den Kinderschuhen
Können Exoskelette die manuelle Handhabung von Lasten, Überkopfarbeit oder Tätigkeiten in Zwangshaltungen erleichtern und so wirksam vor Muskel-Skelett-Erkrankungen schützen? Arbeitsschutzexperten sehen die möglichen Vorteile, aber es gibt noch offene Fragen...
Muskel- und Skeletterkrankungen (MSE) und ihre Prävention sind in vielen Unternehmen ein zentrales Thema. Kein Wunder, schließlich sind MSE in Deutschland und auch international die häufigste Ursache von Arbeitsunfähigkeit, Schwerbehinderung, eingeschränkter Einsatzfähigkeit im Beruf und vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit – mit milliardenschweren Folgen. Das zeigen aktuelle Zahlen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Exoskelette gelten für viele aktuelle ergonomische Problemstellen als Hoffnungsträger. Aber zum einen treten bei praktischen Tests immer wieder Schwierigkeiten auf, zum anderen gibt es – wie immer bei Innovationen – noch ungeklärte Sachverhalte: Wissenschaftliche Untersuchungen aus arbeitsmedizinischer, biomechanischer oder sicherheitstechnischer Sicht stehen erst am Anfang, auch die sicherheitstechnischen Anforderungen sind noch nicht vollständig geklärt (siehe „Richtlinien und Gesetze“). Und Langzeiteffekte der Technologie konnten schlicht noch nicht erforscht werden, weil sie dafür zu neu ist.
Eine der Diskussionen, die Arbeitsschutzexperten beim Thema Exoskelette gerade führen, dreht sich um die Frage, ob die Systeme tatsächlich den Körper unterstützen oder lediglich die Lasten verteilen. „Bei einer Belastungsreduktion in einem Bereich findet meist eine Belastungsumverteilung auf andere Körperregionen statt“, sagt Benjamin Steinhilber von der Uni-Klinik Tübingen – beispielsweise vom Schultergürtel auf die Hüfte oder vom Rücken auf die Knie. Qualität und Bedeutung dieser Umverteilungen seien noch unklar. Noch wenig untersucht seien auch die Auswirkungen auf die Produktivität, das eventuell erhöhte Sturzrisiko und die Nutzerakzeptanz, die stark vom Arbeitskomfort beim Tragen des Exoskeletts abhänge.
Für mehr Klarheit soll das dreijährige Forschungsprojekt Exo@work sorgen, das die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) 2018 begonnen hat. Das Projekt soll zu arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirksamkeit der Nutzung von Exoskeletten sowie über mögliche Gefährdungen der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten beitragen. Ziel ist eine Leitlinie mit Bewertungskriterien und Handlungsempfehlungen.
Ein spezielle Schwierigkeit von Exoskeletten hat beispielsweise das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) identifiziert: „Sämtliche verfügbaren Modelle eint ein Problem: Prinzipbedingt unterstützen sie alle Bewegungen des Trägers – auch unergonomische“, sagt Henning Schmidt. Daher hat ein IPK-Team auf der jüngsten Hannover Messe das Modell ErgoJack vorgestellt, das – mit oder ohne Kraftunterstützung – den Träger mit intelligentem Bewegungsmonitoring und Echtzeit-Feedback zu rückenschonendem Verhalten animieren soll: Bewegt sich der Träger ergonomisch ungünstig oder verharrt er längere Zeit in rückenschädigender Position, erhält er per Vibrationsalarm einen Hinweis.
„Exoskelette sind eine spannende Innovation, die aber noch Entwicklungsarbeit braucht“, sagt Ralf Schick, Leiter des Sachgebiets Physische Belastungen der BGHW sowie im Fachbereich Handel und Logistik der DGUV. Aus seiner Sicht können Exoskelette Menschen dabei unterstützen, länger gesund zu arbeiten. Das gelte zum Beispiel für Hebe- und Tragetätigkeiten in Verbindung mit schweren Lasten oder für Arbeiten in Zwangshaltungen, bei denen bisher keine oder nur unzureichende technische Hilfsmittel eingesetzt werden könnten. „Die Unternehmen sollten aber immer zuerst danach streben, den jeweiligen Arbeitsplatz ergonomisch zu gestalten“, betont Schick. In den allermeisten Fällen sei das bei stationären Arbeitsplätzen möglich, beispielsweise mit Hilfe von Lastenmanipulatoren, Gabelhubwagen, Scherenhubtischen, Vakuumheber oder Gabelstaplern. „Solange das Potenzial an technischen und organisatorischen Maßnahmen an stationären Arbeitsplätzen nicht ausgeschöpft ist, ist der Einsatz von Exoskeletten nicht zu empfehlen.“
Orientierung für Unternehmen
• Das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) bietet eine Muster-Gefährdungsbeurteilung für den Einsatz von Exoskeletten an. Diese soll Unternehmen dabei unterstützen, bei einem solchen Einsatz eventuelle Gefährdungen besser identifizieren und beurteilen können. Entstanden ist die Muster-GBU in einer Forschungskooperation, an der auch der DGUV-Fachbereich Handel und Logistik beteiligt war. Unter anderem sind Erfahrungen aus der Maschinensicherheit, aus dem Bereich Persönliche Schutzausrüstungen (PSA) und aus der Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz eingeflossen. https://www.dguv.de/medien/ifa/de/pra/ergonomie/gefaehrdungsbeurteilung_exoskelette.pdf?src=asp-cu&typ=pdf&cid=7259
• Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) erarbeitet zurzeit die Leitlinie „Einsatz von Exoskeletten im beruflichen Kontext zur Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention von arbeitsassoziierten muskuloskelettalen Beschwerden“. Sie soll Ende 2019 fertiggestellt sein. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/002-046.html
• Fragen und Antworten zu einem möglichen Einsatz von Exoskeletten in der Industrie hat die DGUV online zusammengestellt. https://www.dguv.de/fbhl/sachgebiete/physische-belastungen/faq_exo/index.jsp?src=asp-intern&cid=7259
Richtlinien und Gesetze
Die sicherheitstechnischen Anforderungen, die Exoskelette beim Einsatz an gewerblichen Arbeitsplätzen erfüllen müssen, hängen wesentlich vom Einsatzzweck beziehungsweise der bestimmungsgemäßen Verwendung ab. Laut Ralf Schick von der BGHW wird die daraus resultierende Zuordnung von Exoskeletten zum Geltungsbereich bestehender Richtlinien und Gesetze noch diskutiert. Denkbar ist demnach beispielsweise eine Zuordnung als technisches Hilfsmittel zur Maschinenrichtlinie (2006/42/EG). In deren Anhang 1 werden bereits verbindliche Schutzziele beschrieben, die Anhaltspunkte für die Vermeidung von Gefährdungen für Sicherheit und Gesundheit beim Einsatz von Exoskeletten geben können. In Deutschland wird die Richtlinie durch das Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) umgesetzt. Bei der Verwendung von Exoskeletten als medizinisches Hilfsmittel, zum Beispiel im Rahmen der beruflichen Wiedereingliederung oder Inklusion, könnten die europäische Richtlinie für Medizinprodukte (93/42/EWG) und das deutsche Medizinproduktegesetz (MPG) zur Anwendung kommen. Angesichts der von Entwicklern und Herstellern beschriebenen Präventionspotenziale und Einsatzmöglichkeiten von Exoskeletten liegt jedoch auch eine Einordnung als personenbezogene und personengebundene Maßnahme nahe. In dem Fall wäre eine Zuordnung zur europäischen PSA-Verordnung 2016/425 möglich.