„Guter Schlaf muss Chefsache sein“
Rund 80 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer leiden an Schlafstörungen. Das beeinträchtigt die Qualität ihrer Arbeit ebenso wie ihre Gesundheit. Schlafspezialist Prof. Dr. med. Ingo Fietze erläutert im Interview, warum der gute Schlaf von Beschäftigten mehr Aufmerksamkeit bekommen muss.
Herr Professor Fietze, was bedeutet bei Schlaf 'gut' oder 'ausreichend' – kann man das allgemeingültig definieren? Leider ist Schlaf nicht so einfach messbar wie beispielsweise der Blutdruck. Grundsätzlich lässt sich sagen: Wenn man erholt aufwacht, hat man gut geschlafen. Wenn man müde aufwacht, war der Schlaf zu kurz oder zu schlecht – oder beides.
Was macht guten Schlaf denn so wichtig? Individuell ist man nach einer schlechten Nacht geistig nicht auf der Höhe. Im Job kann das schon zu Problemen führen: Man ist müde – nicht unbedingt schläfrig, aber unaufmerksam. Das gefährdet einen selbst, unter Umständen aber auch andere Beschäftigte oder Mitmenschen, je nach Beruf. Wenn sich dann schlechte Nächte häufen oder der Schlaf über Monate oder gar Jahre gestört ist, wird es ungesund. Diabetes kann die Folge sein, Bluthochdruck, Krebs, eine sinkende Lebenserwartung.
Warum wird dem Thema Schlaf dann so wenig Aufmerksamkeit gewidmet? Vielleicht weil wir in Deutschland wohnen und nicht in den USA oder in Japan? Diese mangelnde Aufmerksamkeit für das Thema guter Schlaf ist ein Stück weit europa- und auch deutschlandspezifisch. Es gibt in Deutschland keine wirkliche universitäre Schlafmedizin, bis heute lernen Studierende kaum etwas über den Schlaf. Es gibt auch so gut wie keine Schlafpraxen. Dabei ist der schlechte Schlaf nach Adipositas die zweithäufigste Erkrankung, die es überhaupt gibt.
Der Begriff Erkrankung klingt in Zusammenhang mit schlechtem Schlaf ungewohnt... … und das ist leider Teil des Problems. Der eine schnarcht ein bisschen, der andere kann nicht schlafen – klingt lapidar, ist aber alles andere als das. Wenn der Schlaf dauerhaft, also etwa vier bis zwölf Wochen lang, nicht erholsam ist und man selbst das Gefühl hat, nichts falsch zu machen, sollte man sich professionelle Hilfe suchen. Sonst wird schlechter Schlaf chronisch – mit den erwähnten Folgen. Etwa jeder zehnte Deutsche hat bereits eine behandlungsbedürftige Schlafstörung.
Das Thema guter Schlaf – also ausgeschlafene, ausgeruhte, wache Beschäftigte – sollte also aus verschiedensten Gründen Chefsache sein? Das sollte es unbedingt, aber wahrscheinlich schlafen viele Bosse noch zu gut, um sich um das Thema zu kümmern. Wenn ich in Betriebe gehe und Vorträge halte, dann sitzt da aus der Führungsebene in der Regel leider niemand. Vielleicht haben viele noch nicht verstanden, dass schlechter Schlaf der Beschäftigten nicht nur Einfluss auf deren Leistungsfähigkeit hat, sondern auch auf die Zahl der Krankheitstage.
Was können Unternehmen denn für den guten Schlaf ihrer Beschäftigten konkret tun? Zunächst könnte jeder Betrieb eine Umfrage unter der Belegschaft machen, wie viele sich tagsüber müde fühlen und in der Pause lieber ein Nickerchen machen würden, als den fünften Kaffee zu trinken. Ein Berliner Unternehmen hat mal eine Liste mit zehn möglichen gesundheitsfördernden Maßnahmen zur Abstimmung gestellt. Gewonnen hat zwar ein besseres Angebot in der Kantine. Aber schon an zweiter Stelle kam der Ruheraum. Wenn mehr Betriebe ihre Beschäftigten anonymisiert befragen würden, am besten flächendeckend, würde das Bedürfnis nach Schlaf und Ausruhen sehr häufig deutlich werden. Übrigens sollte das Thema Ruheraum besonders für Unternehmen mit vielen Büroarbeitsplätzen auf der Agenda ganz oben stehen. Niemand kann acht Stunden konzentriert am Bildschirm arbeiten. Alle vier Stunden lässt die Aufmerksamkeit deutlich nach, leichtere Schwächen gibt es sogar alle 90 Minuten. Wenn ich zudem auch noch schlecht geschlafen habe, werde ich dann müde. Als guter Arbeitgeber weiß ich das und ermögliche es daher meinen Leuten, sich bei Bedarf zwischendurch eine Weile aufs Ohr zu legen.
Ist in vielen Betrieben vielleicht der Blickwinkel das das Thema Schlaf zu eng? Oft wird dabei ja nur an Schichtarbeit gedacht. Dabei muss Schichtarbeit an sich nicht mal das größte Problem sein. Wichtig ist die Art der Tätigkeit. Die körperliche Leistungsfähigkeit beispielsweise kann man oft auch nach wenig Schlaf noch gut abrufen. Wenn acht Stunden lang geistige Fitness gefordert ist, sieht das schon anders aus. Und zum Drama wird das Thema überall dort, wo Müdigkeit und Einschlafen einfach nicht vorkommen dürfen – bei Zugführern beispielsweise oder in Leitzentralen. Aus meiner Sicht gibt es noch viel zu wenige Empfehlungen, wie sich in diesen Bereichen Arbeits- und Ruhephasen besser gestalten lassen. Gleichzeitig werden leicht umsetzbare Verbesserungsmöglichkeiten oft übersehen, beispielsweise wenn die Schichtplanung keinerlei Rücksicht auf Lerchen und Eulen in der Belegschaft nimmt und den Langschläfer zur Frühschicht einteilt. Außerdem gibt es noch zu viele dunkle Arbeitsplätze – dabei macht Helligkeit wach, ebenso wie Licht mit hohem Blauanteil.
Wen sehen Sie außer den Unternehmen noch in der Pflicht? Politik und Krankenkassen. Denn die schlafmedizinische Versorgung ist grottenschlecht, der Schlafgestörte wird allein gelassen. Ich hoffe daher, dass mein neues Buch „Die übermüdete Gesellschaft“ nicht nur Betroffene lesen, sondern auch Schlafgesunde – vor allem Verantwortliche und Entscheidungsträger. Der Schlaf wird immer schlechter, gleichzeitig tut sich bei der Versorgung gar nichts und Prävention findet nicht statt. Bei Prävention geht es immer nur um Fitness und Ernährung, Schlaf spielt keine Rolle. Man traut sich ja kaum zu sagen, dass man nicht schlafen kann, womöglich seit Wochen, dass man deswegen fix und fertig ist – und das gehört enttabuisiert. Daher habe ich auch zum ersten Mal ein Kapitel zum Thema Schlaf bei Kindern und Jugendlichen geschrieben. Denn es ist ein Drama, wenn Sie schon mit 18 eine Schlafstörung entwickeln und nicht erst mit 50. Natürlich ist die Behandlung von Schlafstörungen teuer – aber unbehandelt kosten sie erst recht viel Geld.
Herr Professor Fietze, vielen Dank für das Gespräch.