Leichter Helfer für schwere Lasten
Beim Be- und Entladen von Schiffen kommen häufig schwere Ketten zum Einsatz. Am Seehafen Kiel werden diese Ketten jetzt mit Seilen aus Kunstfaser kombiniert, was das Arbeiten mit den Anschlagmitteln spürbar erleichtert...
Wer an die Arbeit in Frachthäfen denkt, hat oft majestätische Bilder vor Augen: von hohen Kranen und Containerbrücken, die alle Arten von Fracht scheinbar mühelos an und von Bord schweben lassen. Bevor die Maschinen ihre Kraft einsetzen können, müssen jedoch Menschen einen eher mühevollen Arbeitsschritt erledigen: Das Anschlagmittel – also die Verbindung zwischen Last und Hebezeug beziehungsweise zwischen Fracht und Kran – muss befestigt werden. Dafür müssen die Beschäftigten schwere Ketten, die jeweils bis zu 30 Kilo wiegen können, von Hand an Anschlagpunkten einhängen. Für diese körperlich sehr anstrengende Arbeit hat die Umschlaggesellschaft des Port of Kiel, die Seehafen Kiel Stevedoring GmbH, eine ergonomische Alternative entwickelt: eine Kombination der schweren Ketten mit einem Seil aus der Kunstfaser Dyneema (siehe „Stichwort: Dyneema“).
Die Suche nach einer besseren Lösung für das Einhängen der Anschlagmittel begann im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Aufhänger für die Überlegungen war die Arbeitssituation an Containerstaplern mit Auslegern. An einem solchen Ausleger befindet sich ein verstellbarer Rahmen, der sogenannte Spreader, an dem die Anschlagpunkte für das Einhängen der Ketten angebracht sind. Konstruktionsbedingt kann der Spreader nur bis auf eine Höhe von etwa 1,80 Meter über dem Boden abgesenkt werden. Für das manuelle Heben und Anschlagen der Ketten waren immer zwei Personen notwendig, für die die Arbeit eine große Kraftanstrengung und das Risiko von körperlicher Überbeanspruchung mit schmerzhaften Folgen bedeutete – und für den Betrieb das Risiko von teilweise langen Ausfallzeiten.
„Eine Entwicklung im Hafenumschlag ist, dass die Güter tendenziell schwerer werden und dann entsprechend größere und schwerere Anschlagmittel eingesetzt werden müssen“, so Betriebsleiter Timo Beyer. Also musste eine ergonomische Lösung her – die jedoch gleichzeitig alle Anforderungen des Unternehmens an ein Anschlagmittel im Schwerlastbereich erfüllt. Zu diesen Anforderungen gehört zum einen die Tragfähigkeit, zum anderen jedoch auch eine Variabilität bei der Länge, um beim Heben der Fracht die Lasten gleichmäßig auf vier Stränge verteilen zu können.
Timo Beyers Überlegung ging schnell in Richtung eines textilen Anschlagmittels, das man zwar nicht bei Bedarf aufkürzen kann, das dafür aber sehr leicht ist und sich gleichzeitig mit den kürzbaren Ketten verbinden lässt. Ein Projektteam machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Material und entschied sich nach umfangreichen Untersuchungen und Recherchen schließlich für Seile aus der Chemiefaser Dyneema. „Wir haben natürlich vieles probiert“, sagt Udo Bötel, der als Vorarbeiter Stückgutumschlag dem Projektteam angehörte: „Aber es kam nichts anderes in Frage.“
Konkret kombiniert die nach vier Monaten Tüftelei gefundene Lösung Dyneema-Seile mit den herkömmlichen Ketten. Um das Anschlagmittel einhängen zu können, müssen die Beschäftigten jetzt nur noch ein etwa zwei Kilo schweres Dyneema-Seilstück heben – die daran befestigte schwere Kette bleibt solange auf dem Boden liegen. Dadurch kann jetzt eine Person alleine das leichte Seilteil am Spreader befestigen, was nicht nur die Arbeit erleichtert, sondern auch die Rüstzeiten verkürzt. „Es ist wirklich eine tolle Sache, wenn man etwas hat, das 40 Tonnen heben kann, aber nur zwei Kilo wiegt“, sagt Timo Beyer: „So kann man wirklich ergonomisch Tag für Tag arbeiten. Wir möchten ja auch, dass unsere Mitarbeiter mit 50 oder 60 das noch können.“ Udo Bötel berichtet, dass seine Kollegen schon von der Idee direkt begeistert waren – und später dann auch von der praktischen Umsetzung.
2019 bekam das Unternehmen für seine Idee übrigens den Präventionspreis „Die Goldene Hand“ der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW). Er wird jährlich für besonders gelungene und vorbildliche Projekte in der Arbeitssicherheit und im Gesundheitsschutz vergeben. Für BGHW-Jurymitglied Jörg Klauke von der Hamburger Hafen- und Lagerhaus AG lag die Preiswürdigkeit auf der Hand. „Als erstes habe ich gedacht: Wieso bin ich nicht darauf gekommen, das hätte ja schon Jahrzehnte vorher passieren können“, sagte der gelernte Hafenfacharbeiter im Rahmen der Preisverleihung: „Das ist eine prima Idee – eine große Erleichterung für die Mitarbeiter.“
Stichwort Dyneema
Dyneema ist eine Warenmarke des niederländischen Chemiekonzerns Royal DSM. Sie bezeichnet eine synthetische Chemiefaser auf der Basis von Polyethylen mit ultrahoher Molekülmasse: Ultra-High-Molecular-Weight Polyethylene beziehungsweise UHMWPE. Die Dyneema-Faser ist auf die Masse bezogen bis zu fünfzehn mal zugfester als Stahl. Gleichzeitig ist sie etwas leichter als Wasser und hat eine hohe Beständigkeit gegen Abrieb, Feuchtigkeit, UV-Strahlen und Chemikalien. Dünne Dyneema-Garne werden beispielsweise für Angel- und Drachenschnüre eingesetzt. Mittlere Garne werden für Kletterseile, Hubschrauberseile, Yachttaue und Fischernetze verwendet sowie zu Segeltuch und Planen verwebt. Dicke Garne kommen in schweren Geweben und Tauen für Schiffe, Ölplattformen und Tiefseeinstallationen zum Einsatz.
Seehafen Kiel Stevedoring GmbH
Die Seehafen Kiel Stevedoring GmbH wurde 2005 gegründet und übernimmt als Tochterunternehmen des Port of Kiel das Fest- und Losmachen sowie das Laden und Löschen der meisten RoPax-, RoRo- und Containerschiffe im Kieler Hafen. Stevedoring ist das englische Wort für das Stauen und Löschen, also das Be- und Entladen von Schiffen. Zum Leistungsspektrum des Unternehmens gehört jedoch auch die Vor- und Nachbereitung von Maschinen wie zum Beispiel die Radmontage bei Mähdreschern, das Betanken von Fahrzeugen, die professionelle Ladungssicherung, der Umschlag von Stückgütern und von Forstprodukten auf Lkw oder Reedereieinheiten, das Tallieren, Vermessen und Lagern von Gütern, die Ladungskontrolle sowie die Phytosanitärabfertigung und die Zolldeklaration.