Mit Ergonomie zu mehr Qualität
Beschäftigte in Deutschland werden im Durchschnitt immer älter. Der Continental-Konzern reduziert daher seit zehn Jahren systematisch die körperlichen Belastungen am Arbeitsplatz – mit positiven Folgen für Effizienz und Qualität...
Eine gute ergonomische Arbeitsplatzgestaltung gilt als wesentlicher Baustein, um Beschäftigte bis zum regulären Renteneintrittsalter an ihrem Arbeitsplatz halten zu können und somit unter anderem dem Fachkräftemangel aktiv gegenzusteuern. Auch die Continental AG stieg 2006 ursprünglich aufgrund des demografischen Wandels in das Projekt Ergonomie ein: Als Ziel formulierte der Konzern die Schaffung ergonomisch gestalteter Arbeitsplätze, an denen die Mitarbeiter langfristig gesund bleiben, eine höhere Leistungsfähigkeit haben, keine Fehler aufgrund von körperlicher Überlastung und nachlassender Konzentration machen, dauerhaft produktiv bleiben und unabhängig vom Alter und Geschlecht eingesetzt werden können. „Wir gehen davon aus, dass bis 2020 die Zahl der Mitarbeiter im Alterssegment zwischen 55 und 65 Jahre in unserer Produktion in Deutschland auf etwa 35 Prozent steigen wird. 2005 waren es noch 8 Prozent, 2011 rund 13 Prozent“, erläutert Peter Dolfen, Head of Corporate Safety & Health, anlässlich der Ergonomie-Netzwerk-Konferenz von Continental Anfang April in Berlin. Angesichts dieser Entwicklung will der Konzern bis 2020 für mindestens 50 Prozent der Beschäftigten altersstabile Arbeitsplätze bereitstellen – zurzeit liegt die Rate (in Deutschland) bei 44,1 Prozent.
Die Bedeutung von Ergonomics@Continental geht inzwischen jedoch weit über den demografischen Aspekt hinaus, wie die Ergonomie-Netzwerk-Konferenz ebenfalls zeigte: Der aktuelle Fokus des Konzerns liegt auf dem Einfluss der Ergonomie auf Produktqualität und Arbeitsleistung sowie auf ihrer Bedeutung für Lean Production. „Hinter dem Thema Ergonomie stehen harte wirtschaftliche Fakten”, sagt Klaus-Dieter Wendt, Leiter Corporate Ergonomics innerhalb der Continental AG, der seit dem Projektstart für Ergonomics@Continental verantwortlich ist. „Dass schlechte Ergonomie zu schlechten Ergebnissen und zu Ausfallzeiten führen kann, rückt das Thema stärker in den Blick.” Ausfallzeiten beispielsweise, die auf eine Überlastung von Beschäftigten zurückzuführen seien, würden im Konzern als eine Art der Verschwendung und daher als nicht vereinbar mit den Erfordernissen der Lean-Production-Philosophie gewertet. Und die Bedeutung für die Produktqualität bringt Frank Rabe, Head of Quality and Environment, prägnant auf den Punkt: „Schlechte Ergonomie begünstigt Fehler.“ Probleme bei der Produktqualität seien zu auch auf Arbeitsfehler in den Produktionswerken zurückzuführen, Grund für solche Fehler sei häufig eine schlechte Ergonomie des jeweiligen Arbeitsplatzes. Umso wichtiger sei es, Arbeitsplätze ergonomisch zu optimieren.
Um Ergonomie transparent zu machen und nachweislich dokumentieren zu können, arbeitet Continental mit einem elektronischen Belastungs-Dokumentations-System (BDS), das in Zusammenarbeit mit dem Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie (ASER) in Wuppertal entstanden ist und laufend angepasst wird. In Deutschland hat das Technologieunternehmen bereits alle existierenden Produktionsarbeitsplätze damit analysiert und bewertet, 2015 hat der internationale Rollout begonnen. BDS-Kernstück ist eine standardisierte Erfassung tätigkeits- und arbeitsplatzbezogener Daten – physische Belastungen in den Bereichen manuelle Tätigkeiten, Heben/Halten/Tragen sowie Ziehen und Schieben, Belastungen auf Basis von Umgebungseinflüssen und organisatorischen Bedingungen, Belastungen aufgrund der Nutzung persönlicher Schutzausrüstung. Die daraus resultierende ergonomische Bewertung betrifft dabei grundsätzlich nie eine isolierte Tätigkeit wie zum Beispiel die Arbeit an einer einzelnen Maschine, sondern einen typischen achtstündigen Arbeitstag eines Beschäftigten in der Produktion. Aus den erhobenen Daten werden Kenngrößen abgeleitet, welche die ergonomische Qualität der Arbeitsplätze beschreiben und kategorisieren, beispielsweise die physische Belastungsrate oder die Rate der Altersstabilität in einer Organisationsebene. So lassen sich auch kleinere ergonomische Verbesserungen messbar darstellen; bereits erreichte Ergonomieverbesserungen können quantitativ bewertet und durch Zielvorgaben gesteuert werden.
Der Wissenstransfer und die Vernetzung zwischen den unterschiedlichen externen und internen Beteiligten und den verschiedenen Standorten des Konzerns spielen vor diesem Hintergrund eine große Rolle. Mit internen Schulungen zum Thema Ergonomie in der Produktion vermittelt Continental beispielsweise das notwendige Wissen für eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung – neben Grundlagenschulungen gibt es Spezialistenseminare unter anderem zu neutralen Gelenkstellungen und Körperhaltungen sowie Spezialschulungen zum Beispiel zur Griff- und/oder Rollengestaltung. An allen Standorten werden ausgewählte Beschäftigte in der Bedienung und Nutzung des BDS geschult, und spezielle Seminare richten sich an die für die Arbeitsplatzgestaltung zentralen Konzernbereiche Industrial Engineering und Beschaffung. Bei der Entwicklung der Grundlagen und bei den Schulungen kooperiert Continental häufig mit externen Spezialisten – von der Universität Hamburg (Bereich Psychologie und Bewegungswissenschaft), der Universität Kassel (Bereich Arbeitswissenschaft und Prozessmanagement, Fachbereich Arbeits- und Organisationspsychologie) und vom Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie.
„Netzwerkkonferenzen sind wesentlich für den Wissenstransfer zwischen den beteiligten Standorten“, beschreibt Jörg Nimoth, der die globale Einführung von Ergonomics@Continental leitet, eine weitere wichtige Erfahrung aus dem zehnjährigen Ergonomieprojekt. In Deutschland gibt es je ein jährliches Netzwerktreffen im Norden und im Süden der Republik, hinzu kommt die deutschlandweite Ergonomie-Netzwerk-Konferenz. 2017 soll es – passend zum internationalen Projekt-Rollout – zum ersten Mal auch eine internationale Netzwerkkonferenz geben. Neben Neuerungen im Bereich Ergonomie, aktuellen Forschungsergebnissen aus der Arbeitswissenschaft und Änderungen des BDS stehen bei diesen Konferenzen vor allem praxisnahe Vorträge und Workshops sowie nachahmenswerte Ergonomie-Beispiele aus den verschiedenen Standorten im Mittelpunkt.
Auch bei der jüngsten Netzwerkkonferenz in Berlin nahm dieses Good-Practice-Sharing breiten Raum ein: 33 Beispiele aus den deutschen Standorten bewarben sich um den diesjährigen Ergonomie-Award der Continental AG, dessen Gewinner immer die Konferenzteilnehmer wählen. Den ersten Platz erreichte ein Good-Practice-Beispiel des Automotive-Standortes Regensburg. Dort wurde vor der ergonomischen Verbesserung bei der Materialzuführung ein etwa 14 Kilogramm schwerer Behälter fünf Mal per Hand umgesetzt, bei der Materialabführung wurden innerhalb von zehn Stunden für eine Lieferung 1920 jeweils sechs Kilogramm schwere Kartons von werkseigenen Lagerpaletten auf Kundenlieferpaletten umgepackt. Mit Hilfe von Kugelbändern und schiefen Ebenen ließen sich bei der Materialzuführung die Bereiche Lastenhandhabung, Dynamische Muskelarbeit und Körperhaltung erheblich verbessern. Bei der Materialabführung wird jetzt die Kundenlieferpalette so vorbereitet, dass in der Fertigung direkt darauf verpackt werden kann und das Umpacken komplett entfällt – ein neuer Hub-Scherentisch ermöglicht zudem das ergonomische Verpacken aller Lagen.
Der Standort ContiTech Schlauch in Korbach erreicht mit einem veränderten Stahlspulenhandling den zweiten Platz des Ergonomie-Awards. Dort mussten bislang etwa 35 Kilogramm schwere Spulen von Hand aus Palettenkartons entnommen, zum Verbaupunkt getragen und dort eingebaut werden. Die Lastenhandhabungs-, Haltungs- und muskulären Bedingungen lagen über dem Grenzlastbereich, außerdem bestand Verletzungsgefahr für Hände und Finger. Eine neue Hebetechnik, ein pneumatischer Manipulator, vermeidet nun körperliche Belastungen und Zwangshaltungen und ermöglicht außerdem einen ungefährlichen und leichtgängigen Einbau der Spulen. Ein kleines Teil mit großer Wirkung brachte dem Continental-Standort Villingen den dritten Platz des Ergonomie-Awards. Nach dem Umzug einer Steckzungenmaschine in einen Bereich mit Mitarbeiterfrequentierung litten die Beschäftigten unter dem monotonen Hämmern der Anlage. Die Lösung des Problems war der Austausch der Standard-Lagerscheiben durch lärmmindernde Kunststoffscheiben. Diese sind nicht nur billiger als das Standardteil, sondern sorgen insbesondere bei den an der Anlage beschäftigten Mitarbeitern mit Hörhilfen für eine deutliche Entlastung von Lärmemissionen.
„Bei Ergonomics@Continental geht es nicht um Window-Dressing, sondern um ehrliche Verbesserungen“, betont Peter Dolfen bei der Präsentation des aktuellen Projektstands. Continental strebe daher eine Vertiefung des Projekts in Deutschland und die Ausweitung weltweit an. Ergonomics@Continental soll außerdem den Aufbruch in die Zeit von Industrie 4.0 begleiten und unterstützen, denn cyberphysische Systeme werden Auswirkungen auf die Beschäftigten und die Produktion haben. Für die Ergonomie heiße das weiterhin: gute Arbeitsgestaltung für hochproduktive und gesunde Arbeitsplätze.