„Täter sind Menschen wie wir“
Gewalttäter oder Terroristen werden in der Öffentlichkeit immer wieder als Psychopathen oder Wahnsinnige bezeichnet. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) warnt jedoch vor einer „Psychiatrisierung des Terrors“ – aus mehreren Gründen...
Nizza, Würzburg, München, Ansbach – die Gewalttaten ereigneten sich in diesem Sommer Schlag auf Schlag. Als Begründung mussten schnell psychische Erkrankungen herhalten: ein depressiver Kleinkrimineller in Nizza, ein traumatisierter minderjähriger Flüchtling in Würzburg, ein Schüler mit Angststörungen und sozialer Phobie in München, ein suizidaler Asylbewerber in Ansbach. Bei der genauen Analyse der Motive stießen die Behörden jedoch auf komplexere Bilder: religiöse Radikalisierung und Verbindungen zur Terrororganisation IS in Nizza, Würzburg und Ansbach, rassistisch motivierte Höherwertigkeitsgefühle in München. Wegen dieser Komplexität warnt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) davor, Terrorismus und schwere Gewalttaten zu psychiatrisieren: Eine solche Psychiatrisierung bagatellisiere Terror und Gewalt, weil solche Taten damit auf die individuelle Pathologie reduziert würden, obwohl es auch soziologische, historische oder religiöse Faktoren gebe.
„Nach schweren Gewalt- oder Terrorakten erleben wir immer wieder die gleiche Reaktion: Für viele Menschen kann dafür nur ein psychisch kranker Täter in Frage kommen. Doch in den allermeisten Fällen stimmt diese These nicht“, sagt Dr. Nahlah Saimeh. „Extremistische Täter beispielsweise wissen meist sehr genau, was sie tun und welche Folgen ihr Handeln hat“, erläutert die Forensikerin, die Ärztliche Direktorin des LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie Lippstadt und Mitglied im DGPPN-Vorstand ist. Ein terroristischer Akt lasse sich nicht in erster Linie als psychiatrisch-medizinisches Problem erklären; vielmehr sei Terrorismus ein politisches und soziologisches Phänomen, dessen Ursachen noch nicht ausreichend erforscht seien. Daher habe die forensische Psychiatrie bisher auch kein psychopathologisches Musterprofil eines Terroristen erstellen können.
Der Reflex, bei Anschlägen oder Amokläufen gleich von den Tätern als Irre, Wahnsinnige und Psychopathen zu sprechen, ist aus Sicht der DGPPN daher fachlich nicht haltbar. „Es ist verständlich, dass die Bevölkerung nach Gewalttaten nach Erklärungen und Lösungen sucht“, sagt DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth. Die Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des St.-Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee warnt allerdings davor, dabei mit Ängsten zu hantieren. Leidtragende undifferenzierter Diskussionen und übereilter Schlüsse seien die psychisch Kranken, die ohnehin mit Vorurteilen zu kämpfen hätten und als Nachbarn, Kollegen oder Mieter heute stärker abgelehnt würden als noch vor 20 Jahren.
Zudem sind aus Sicht der Fachleute psychisch-medizinische Deutungsversuche aus zwei Gründen problematisch. Zum einen verstellt demnach besagter Reflex den Blick auf Mechanismen und Motive, die hinter Radikalisierungsprozessen und schwerer Gewalttätigkeit stehen, beispielsweise politische oder religiöse Überzeugungen, Gruppenzugehörigkeit, soziale Frustration. Zum anderen führt die Auffassung, psychisch erkrankte Menschen seien grundsätzlich gefährlich, zu einer verstärkten Stigmatisierung. Diese Stigmatisierung erhöht die Hemmschwelle der Betroffenen, sich wegen ihrer psychischen Störung behandeln zu lassen – was wiederum bei bestimmten Patientengruppen, wenn deren psychische Krankheit gar nicht oder nur unzureichend gezielt behandelt wird, das Gewaltrisiko erhöht: ein Teufelskreis.
Denn: „Natürlich darf man nicht die Augen davor verschließen, dass bestimmte Diagnosen oder Krankheitsstadien mit einem erhöhten Gewaltrisiko einhergehen bzw. dass im Rahmen mancher psychischer Erkrankungen Störungen in der Regulation aggressiver Regungen auftreten“, sagt Prof. Dr. Henning Saß; Beispiele seien Schizophrenie oder bipolare Störungen. Der forensisch-psychiatrische Gutachter war bis zu seinem Ruhestand 2010 Ärztlicher Direktor und Vorsitzender des Vorstandes des Universitätsklinikum Aachen, heute ist der Psychiater unter anderem DGPPN-Beiratsvorsitzender und beobachtet während des NSU-Prozesses im Auftrag des Gerichts die Angeklagte Beate Zschäpe. Aber, so Saß weiter, nicht-diagnosebezogene Faktoren wie kultureller Hintergrund, soziale Lebensumstände und psychosoziale Entwicklungsbedingungen seien ebenfalls von Bedeutung. Zudem habe nicht alles, was bei Menschen und ihren Handlungen als schwierig, störend oder verstörend wahrgenommen werde, mit einer psychischen Erkrankung zu tun. Und: Auch psychisch Kranke können bei ihren Handlungen zurechnungs- beziehungsweise schuldfähig sein, nämlich wenn das Delikt kein Symptom ihrer Krankheit ist, wenn also kein kasuistischer Zusammenhang besteht.
Aber selbst wenn Terroristen und andere Gewalttäter aus medizinischer Sicht nicht psychisch krank sind: Die Forensiker haben einige Mechanismen und Strukturen gefunden, die hinter Radikalisierungsprozessen und schwerer Gewalttätigkeit stehen. „Radikalisierte Menschen fühlen sich oft massiv benachteiligt und von der Gesellschaft ausgeschlossen – gleichzeitig sind sie in allen Gesellschaftsschichten anzutreffen, keineswegs nur in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen“, erklärt Nahlah Saimeh. Diese Menschen seien verbittert und würden die Ursache für ihre vermeintliche Unterlegenheit nicht in sich selbst verorten, sondern im Außen: in einem Feind, der nach dem Erkennen beseitigt werden muss. In dieser Situation seien diese Menschen empfänglich für Positionen, die ihnen eine gewisse Überlegenheit bieten – ein Weltbild, eine Ideologie oder eine Religion: „Radikalisierung macht die Welt einfach und verleiht eine sehr einfache Orientierung, bei der die jeweilige Person vor allem selbst immer auf der überlegenen Seite stehen kann.“ Terroristische Propaganda ziele stets auch darauf ab, andere Menschen zu dehumanisieren; das sei bei fast allen Formen politischer Gewalt zu beobachten. Und religiös begründeter Terror gewinne zusätzlich durch die vermeintliche göttliche Absolution, einer höchsten Instanz oder einer absoluten Wahrheit zu dienen.
„Ob eine radikale Gesinnung schließlich in einer extremistischen Tat mündet, hängt ganz besonders vom psychologischen Klima ab, in dem diese Menschen leben“, so Saimeh weiter. Bei einem psychotischen – also tatsächlich psychisch kranken – Täter sei es denkbar, dass aktuelle Themen aus der Gesellschaft in unkorrigierbar wahnhafte Denkinhalte eingebaut werden und daraus entsprechende Handlungen folgen: Beispielsweise könne ein an einer schizophrenen Psychose erkrankter Mensch je nach Umfeld oder kulturellem Hintergrund rechtsradikales oder islamistisches Gedankengut in sein Wahn-Erleben einbauen.
Täter könnten jedoch auch aus verschiedenen anderen, im eigentlichen Sinne nicht psychisch kranken Gruppen der Bevölkerung kommen, so Saimeh. Impulsive und gewaltbereite Personen, die schon vorher Gewaltstraftaten oder Drogendelikte begangen haben, könnten im Terror eine passende Ideologie für ihr ohnehin antisoziales Verhalten finden. Bei anderen Personen gäben bestimmte persönlichkeitsstrukturelle Elemente den Ausschlag: Mögliche Täter seien narzisstische Persönlichkeiten mit einem sehr starken Bedürfnis nach eigener Geltung und Bedeutung bei gleichzeitig abnorm hoher Kränkbarkeit – oder auch Borderline-Persönlichkeiten, die in ihrem Denken und ihren Emotionen ein sehr starkes Schwarz-Weiß-Muster befolgen. Und bei Menschen aus der normalen Mittelschicht könne eine persönliche, allein nicht zu bewältigende Lebenskrise zur Radikalisierung führen: Auch hier verspreche diese Radikalisierung dem Betreffenden Halt, Orientierung und die Gewissheit, auf der vermeintlich richtigen Seite zu sein.
Saimehs Erfahrung: „Jeder kann zum Mörder werden. Es kommt nur auf die individuelle Schwelle an, den individuellen Trigger – oder auf eine entsprechende totalitäre Ideologie. Täter sind Menschen wie wir.“