Wenn der Zappelphilipp erwachsen wird
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine Diagnose, die viele mit Kindern in Verbindung bringen. Doch auch Erwachsene leiden unter ADHS. Wenn Symptome richtig gedeutet und passende Hilfen angeboten werden, lassen sich viele Probleme am Arbeitsplatz vermeiden...
An seine erste Stelle in einem Großraumbüro kann sich Lutz W. noch gut erinnern – und an das Fiasko, in dem es endete. Die Themen, mit denen er und seine Kollegen sich tagsüber beschäftigt hatten, waren Lutz W. zwar abends noch präsent. Seine Arbeit jedoch war unerledigt liegengeblieben: Trotz enormer Anstrengung gelang es ihm einfach nicht, die vielen Geräusche auszublenden und sich auf seine Tätigkeit zu konzentrieren, obwohl diese fachlich für ihn keine Schwierigkeit war. Außerdem fühlte er dauernd einen unbändigen Drang, seine Sitzposition zu wechseln, andere Dinge einzuschieben, den Schreibtisch umzuorganisieren oder aufzustehen, um schnell einen Kaffee zu holen oder zur Toilette zu gehen.
Dabei war er oft schon erschöpft, wenn er es geschafft hatte, pünktlich im Büro zu erscheinen – wenn er es überhaupt schaffte. Schon während der Schulzeit hatte er mehrere Wecker gebraucht, um rechtzeitig aufzustehen, aber zwischen Zähneputzen und Bushaltestelle entglitt ihm dann häufig die Zeit. Als der Chef ihn deswegen zur Rede stellte, verlor er lautstark die Nerven – und das Praktikum war beendet. Nachdem weitere Anläufe bei anderen Arbeitgebern ebenfalls scheiterten, rutschte Lutz W. in eine Depression. Bei der Anamnese wurde sein behandelnder Arzt jedoch auf eine andere Diagnose aufmerksam, die Lutz W. schon als Schüler bekommen hatte: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, also ADHS. Und mit einer Kombination aus medikamentöser und Verhaltenstherapie ließen nicht nur die Depressionen nach, sondern auch deren Ursache: die von ADHS-Symptomatiken verursachten Probleme im Alltag und speziell am Arbeitsplatz.
„Im Kindesalter stellt ADHS die häufigste seelische Störung dar. Man geht davon aus, dass fünf bis sieben Prozent der Kinder betroffen sind“, sagt Dr. Astrid Neuy-Bartmann. Die bisherige Lehrmeinung, dass sich diese Störung im Erwachsenenalter auswächst, werde seit einigen Jahren widerlegt, insbesondere durch amerikanische Studien. Die Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie ist seit über 15 Jahren auf ADHS bei Erwachsenen spezialisiert und schätzt, dass etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind, ohne die geringste Ahnung davon zu haben: „Etwa 30 bis 50 Prozent der von einer ADHS betroffenen Kinder zeigen auch später im Erwachsenenalter deutliche Symptome, die sie in ihrer Lebensgestaltung erheblich beeinträchtigen.“ Beispielsweise sei nur wenig bekannt, dass eine chaotische Lebensführung, ständige Stimmungsschwankungen, Jähzorn, Impulsivität, Beziehungsunfähigkeit und auch Suchterkrankungen die Symptome einer ADHS sein können.
Um ADHS sicher zu diagnostizieren, müssen Fachleute die Symptome sehr gründlich abklären, denn der Grat zwischen normalem Chaos und psychischer Erkrankung ist schmal. Die Psychiatrie orientiert sich bei ADHS an den sogenannten Wender-Utah-Kriterien. Betroffene müssen demnach an einer Aufmerksamkeitsstörung sowie an Hyperaktivität leiden und mindestens eins der folgenden Symptome zeigen: Affektlabilität, gestörte Affektkontrolle, Impulsivität, emotionale Überreagibilität oder desorganisiertes Verhalten. Die gestörte Aufmerksamkeit führt Neuy-Bartmann zufolge zu einer enormen Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit, Sprunghaftigkeit und Zerstreutheit, die bei Erwachsenen erhebliche Arbeitsstörungen verursachen können. Eine Sonderform der Aufmerksamkeitsstörung zeigt sich demnach besonders bei Frauen: Die Betroffenen wirken verträumt, abwesend, uninteressiert. Sie bekommen häufig etwas nicht mit, sind eher unauffällig und neigen dazu sich schnell zurückzuziehen und zu resignieren. Die Hyperaktivität wiederum äußert sich grundsätzlich bei Erwachsenen diskreter als bei Kindern: Erwachsene haben gelernt, sich besser zu beherrschen, aber sie behalten eine innere Unruhe, ein Gefühl, unter Strom zu stehen und nicht abschalten zu können. Das zeigt sich häufig an wippenden Füßen oder an Fingern, die ständig in Bewegung sind und an irgend etwas herumspielen; Betroffene können nicht warten und müssen oft herumlaufen, weil sie Sitzen und Ruhe nicht aushalten.
Bei Affektlabilität, gestörter Affektkontrolle, Impulsivität und emotionaler Überreagibilität reagieren Betroffene laut Neuy-Bartmann auf kleinste äußere Begebenheiten emotional heftig und häufig auch überzogen – relativ harmlose Bemerkungen können eine tiefe Kränkung oder einen Gefühlsausbruch verursachen. Sie sind für sich selbst hyperempfindlich, aber überhaupt nicht zimperlich damit, sofort zuzuschlagen, wenn sie sich angegriffen fühlen. Oder sie sind für alles zugänglich, wenn sie gut gelaunt sind, rasten aber völlig aus, wenn sie unter Stress geraten. Frustrationen und Niederlagen werden schwer ausgehalten. Das desorganisierte Verhalten wiederum spiegelt aus Sicht von Neuy-Bartmann das innere Chaos der Betroffenen wider: Sie können schwer Ordnung halten, weil sie keine innere Struktur haben. Alles erscheint gleich wichtig, sie haben keinen Überblick. Bei Frauen sind es die sogenannten Chaosprinzessinnen, bei Männern der Typ des zerstreuten Professors, denen man einfach alles hinterher tragen muss.
„Bei all den oben aufgeführten Problemen ist es verständlich, dass es am Arbeitsplatz und mit den Mitmenschen zu erheblichen Problemen kommt“, erklärt Neuy-Bartmann. „Oft fühlen sich die Betroffenen außerdem gemobbt, weil sie mit ihrer Impulsivität und ihren Stimmungsschwankungen anecken. Und die inkonstanten Leistungen führen zu erheblichen Problemen mit Kollegen und Vorgesetzten.“ Viele Beschäftigte mit ADHS seien in der Lage, sich ganz hervorragend auf etwas zu konzentrieren, das sie sehr interessiert – dabei könnten sie Höchstleistungen erbringen, während sie an einfachen und uninteressanten Dingen scheitern. Gleichzeitig weist die Fachärztin auf die vielen positiven Aspekte hin, die mit ADHS einhergehen können: „Die Betroffenen sind originelle, kreative Menschen, oft die unbequemen mutigen Vordenker, weil sie sich nicht an Regeln halten können und alles in Frage stellen.“ Es gebe viele erfolgreiche Menschen mit ADHS ohne Krankheitswert. Wenn diese Menschen für sich die richtige berufliche Nische gefunden hätten, seien sie häufig genial und unschlagbar in ihrem sprühenden Eifer und ihrem unermüdlichem Aktionismus – allerdings immer auch anstrengend für ihre Mitmenschen.
Behandlungsbedürftig wird ADHS aus Sicht der Psychiatrie jedenfalls erst, wenn es zu erheblichen Schwierigkeiten im Arbeits- oder Beziehungsbereich kommt – oder eben bei mit der ADHS einhergehenden oder daraus resultierenden Erkrankungen wie Depressionen oder Suchterkrankungen, sozialen Störungen, Borderline- oder Angst-Problematiken. „ADHS erzeugt Stärken und Schwächen“, sagt der Neurologe und Psychiater Dr. Dieter Pütz, früher Chefarzt der Fachklinik für Psychosomatik und Verhaltensmedizin in Bad Münder. Außerdem gebe es „den typischen ADHSler“ nicht, vielmehr könne die Störung in viele Rollen schlüpfen. Der Publikumsliebling beispielsweise könne impulsiv und offen sein, humorvoll, dramatisch, ausdrucksstark und überaus kontaktfreudig – und gleichzeitig oft hyperaktiv, mit unendlich vielen Aufgaben gleichzeitig beschäftigt. Die Träumerin dagegen sei recht still und denke lieber lange über die Dinge nach, als zu handeln. Gleichzeitig sei sie sehr sensibel und impulsiv und oftmals sehr wechselhaft in ihrem Verhalten – faszinierend und voller Elan, aber oft nicht in der Lage, ihren Alltag zu organisieren. Der Kontrolleur wiederum neige dazu, bestimmend und extrem fokussiert zu arbeiten. Er benötige gute Strukturen, um richtig funktionieren zu können. Entweder seien diese Strukturen vorgegeben oder er gebe sie sich selber – dann aber oft so eng und so rigide, dass die minimale Abweichung von diesen Strukturen zu einer Katastrophe führe und er sofort auf 180 sei.
„Grundsätzlich können aufmerksamkeitsgestörte Menschen jeden Beruf ergreifen und ausfüllen, für den sie sich interessieren und für den sie die notwendigen Voraussetzungen mitbringen“, so Pütz weiter. Am Arbeitsplatz gebe es vor allem drei Konfliktfelder: die sogenannten Grundarbeitstugenden wie Pünktlichkeit, Disziplin und Verlässlichkeit, die Leistungserwartungen an Qualität und Tempo der Arbeit sowie den sozialen Bereich, also den Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten. In allen drei Bereichen könnten Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben. Häufig würden diese im Betrieb aber nicht als krankheitsbedingt erkannt oder anerkannt, sondern als Unfähigkeit oder Unwilligkeit gewertet – als würde der Kollege nicht recht wollen und müsse sich nur mal richtig zusammenreißen. „So kommt es oft zu Missverständnissen“, so Pütz. „Wichtig erscheint jedoch, dass störungsspezifische Hilfen angeboten werden und vor allem von Seiten der Ausbilder und Vorgesetzten, aber auch der Kollegen auf die besonderen Bedürfnisse und Eigenarten der Betroffen eingegangen wird.“ Als störungsspezifische Hilfen gelten beispielsweise ein ruhiger Arbeitsplatz statt eines Schreibtischs im Großraumbüro, detaillierte Arbeits- und Tagespläne mit entsprechenden Pausen, das Klären und Definieren von Prioritäten, das Arbeiten in Etappen, das Nutzen elektronischer Kalender mit Erinnerungsfunktion, Checklisten für regelmäßig wiederkehrende Aufgaben und das Vermeiden langatmiger Sitzungen.
In einem sind sich die Fachleute einig: ADHS ist keine Entschuldigung für Nicht-Können, oft aber eine Erklärung. Grundsätzlich gelten daher Arbeiten oder Berufe als problematisch, die folgende Anforderungen an die Betroffenen stellen: eine hohe Konzentration über einen längeren Zeitraum, Arbeiten im Sitzen ohne die Möglichkeit, die Körperhaltung zu ändern, feinmotorische oder gleichförmige Arbeiten, ordnende Tätigkeiten sowie Arbeiten mit arbeitsspezifischem Termindruck oder einem hohen Routineanteil. Als günstig gelten hingegen Tätigkeiten mit hohem Bewegungsanteil oder viel Abwechslung, Arbeiten im Freien, kreative und gestaltende, helfende und soziale Berufe sowie Arbeitsfelder, auf denen die Betroffenen selbstständig arbeiten können.
Und bei allen Schwierigkeiten: „Das Eingebundensein ins Arbeitsleben, der regelmäßige Arbeitstag, der gewohnte Kontakt zu den Kollegen stellen eine äußere Struktur dar, wenn die innere Struktur verloren geht“, sagt Dieter Pütz. Daher sei Berufstätigkeit für Menschen mit ADHS besonders wichtig. „Gerade bei der Angst vor dem Versagen, der mangelnde Strukturierung und der inneren Leere und Unruhe kann ein garantierter Arbeitsplatz eine konkrete Antwort sein – und die Existenzsicherung ein heilender Faktor.“
Stichwort ADHS
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist gekennzeichnet durch erhebliche Beeinträchtigungen der Konzentrations- und Daueraufmerksamkeitsfähigkeit, Störungen der Impulskontrolle sowie Hyperaktivität oder innere Unruhe. Das Syndrom wird in der Fachliteratur schon seit über 100 Jahren beschrieben. Zu den bekanntesten nichtwissenschaftlichen Darstellungen gehören die Figuren Zappelphilipp und Hans Guck-in-die-Luft aus dem Kinderbuch „Struwwelpeter“ des Frankfurter Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann aus dem Jahr 1844. Andere, teilweise noch gebräuchliche Bezeichnungen für ADHS sind Zappelphilipp-Syndrom, hyperkinetisches Syndrom (HKS), psycho-organisches Syndrom (POS), minimale cerebrale Dysfunktion (MCD) und Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS). Für Erwachsene mit ADHS sind in der Regel Fachärzte für Psychiatrie oder psychosomatische Medizin, Neurologen sowie ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten zuständig. Als wirksam erweisen sich bestimmte psychotherapeutische Verfahren, zum Beispiel die Verhaltenstherapie. Gleichzeitig stehen als Ergänzung auch Medikamente zur Verfügung, welche die Botenstoffe im Gehirn wieder ins Gleichgewicht bringen.
http://www.adhs-deutschland.de http://www.adhs.info