„Die Verhältnisse und das Verhalten müssen stimmen“

Körperzwangshaltungen gehören bei vielen Versicherten der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) zum beruflichen Alltag. Wir sprachen mit Kerstin Steindorf von der Hauptabteilung Prävention über Ansatzpunkte, Hürden und Chancen für bessere Ergonomie am Arbeitsplatz.

Frau Steindorf, wenn es um bessere Gesundheit und mehr Sicherheit bei der Arbeit geht: Wie wichtig ist da das Thema Zwangshaltungen?
Aus meiner Sicht ist das Thema sehr wichtig. Zwangshaltungen führen oft zu gesundheitlichen Problemen wie Muskel- und Skeletterkrankungen. Die Prävention von Muskel-Skelett-Belastungen ist ein großes Handlungsfeld. Häufig wird dabei vor allem auf das Heben und Tragen schwerer Lasten geschaut, dieses Thema ist sehr anschaulich. Bei Zwangshaltungen arbeitet der Mensch über einen längeren Zeitraum in Körperhaltungen, die sehr wenig Bewegungsmöglichkeiten bieten; dieses Thema ist vielschichtiger und deutlich komplexer. Dazu gehören unter anderem Arbeiten über Schulterniveau wie das Schleifen von Decken, das Knien beim Verlegen von Fliesen oder die starke Oberkörpervorneigung beim Eisenflechten. Gleichzeitig nehmen die Menschen oft an, dass diese Haltungen nun mal zum Job dazu gehören und sie daran nichts ändern können. Das stimmt so in vielen Fällen jedoch nicht. Daher ist es wichtig, die Menschen dafür zu sensibilisieren, was bei diesen Haltungen mit ihrem Körper geschieht und welche Möglichkeiten sie haben, sich die Arbeit zu erleichtern – und zwar rechtzeitig, also bevor sich gesundheitliche Probleme einstellen. Denn der Leidensdruck durch MSE ist sehr hoch. Sowohl bei den Beschäftigten, da MSE schmerzhaft und oft langwierig sind, als auch bei den Unternehmen, denn AU-Tage sind teuer und erfordern einen hohen Organisationsaufwand.

Wo könnte man in Unternehmen ansetzen, um diese Sensibilisierung zu erreichen?
Da gibt es einige Ansätze: Ein wichtiger Punkt ist die Präventionskultur im Unternehmen, also welchen Wert der Chef selbst auf solche Dinge legt. Am besten ist es, wenn der Chef und die Führungskräfte, gesundes Arbeiten vorleben. Dabei geht es um Themen wie die Nutzung ergonomischer Arbeits- und Hilfsmittel, aber eben auch um das Verhalten am Arbeitsplatz. Auch das Alter an sich ist keine Krankheit. Aus meiner Sicht wird der Grundstein für die Arbeitsfähigkeit im Alter in jungen Jahren gelegt. Wenn jemand weiß, wie man sich körpergerecht bewegt und arbeitet, dann fördert das die Gesundheit. Und sehr wahrscheinlich kann man dann auch länger im Beruf arbeiten.

Neben der Präventionskultur im Unternehmen ist also ebenso wichtig, dass jeder einzelne Beschäftigte auf körpergerechtes Arbeiten achtet?
Wir erleben im Alltag häufig, dass die Beschäftigten sagen: Die Arbeit auf dem Bau ist hart, das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Natürlich trifft es zu, dass auf dem Bau nach wie vor körperlich schwer und in ungesunden Haltungen gearbeitet wird – und es gibt nicht für jede Tätigkeit technische Erleichterungen oder die Möglichkeit, Abläufe umzustellen, um aus diesen Zwangshaltungen rauszukommen. Hinzu kommt, dass der Zeitdruck sehr hoch ist und gerade kleine Unternehmen sehr genau rechnen müssen beziehungsweise für ergonomische Hilfsmittel nur ein sehr schmales Budget haben. Als Orientierungshilfe stellen wir auf unserer Homepage diverse ergonomische Lösungen vor (siehe Kasten „Ideen für mehr Ergonomie“). Aber: Im Vergleich zu früher hat sich auf dem Bau hinsichtlich der Reduzierung körperlicher Belastungen auch schon sehr viel getan. Es gibt beispielsweise mehr unterstützende Technik. Man muss sie nur auch nutzen.

Gibt es da Vorbehalte seitens der Beschäftigten?
Nicht unbedingt, aber es ist immer schwierig, eingefahrene Verhaltensmuster zu ändern. Wenn Sie sich angewöhnen wollen, für das Heben einer schweren Kiste in die Knie zu gehen statt einen krummen Rücken zu machen, werden Sie das sehr oft wiederholen müssen, bis sich der neue Bewegungsablauf normal anfühlt. Und auch an Werkzeuge oder Hilfsmittel, die das Arbeiten ergonomischer machen, muss man sich erst gewöhnen und den Umgang damit üben. Vom Kopf her ist es oft klar, welches Vorgehen oder Verhalten schonender und gesünder ist. Trotzdem ist die praktische Umsetzung erstmal aufwändig und braucht Zeit. Nur: Wer sich diese Zeit nicht nimmt, spart an der falschen Stelle. Aus meiner Sicht müssten Themen wie Ergonomie und körpergerechtes Arbeiten schon in der Lehrlingsausbildung, zum Beispiel in den Überbetrieblichen Ausbildungszentren, einen noch größeren Stellenwert bekommen. Wenn die Azubis dann auf die Baustelle kommen und dort etwas anders machen wollen, haben sie es zwar gegen die alten Hasen oft schwer, aber vielleicht gelingt gemeinsam ein Umdenken.

Dabei könnten doch bestimmt schon kleine Änderungen viel bewirken?
Auf einer Baustelle ist jeder Tag anders, das betrifft den vom Baufortschritt betroffenen Arbeitsplatz, aber auch die gesamte Organisation. Trotzdem kann man mit einfachen Mitteln viel erreichen. Beispiel Transportwege: Ich kann Material und Geräte so lagern, dass ich möglichst kurze Wege habe. Oder denken Sie an Erholungszeiten: Um die Leistungsfähigkeit eine ganze Arbeitsschicht lang aufrecht zu erhalten, nehmen sich die Beschäftigten oft versteckte Pausen, das heißt, sie schauen mal länger in den Arbeitsplan oder holen sich öfter was zu trinken. Solche versteckten Pausen sind leider nicht wirklich erholsam. Es wäre sinnvoll, offiziell eine Kurzpause am Nachmittag einzulegen beziehungsweise die Beschäftigten zu ermutigen, nach hohen körperlichen Belastungen selbstorganisierte Kurzpausen durchzuführen.
Besonders wichtig sind übrigens Unterweisungen direkt am Arbeitsplatz. Hier können sich auch die Sicherheitsbeauftragten einbringen. Natürlich kann man richtige Arbeitsweisen im Vortragsraum zeigen. Aber direkt am Arbeitsplatz ist das viel wirkungsvoller, zumal sich dort das Thema je nach Bedarf immer wieder aufgreifen lässt. Wenn man beispielsweise einen Tisch abwischt, beugt man sich oft frei über die Fläche und wischt mit einer Hand von Seite zu Seite. Für die Lendenwirbelsäule ist das äußerst ungünstig. Besser wäre es, seinen Oberkörper mit der freien Hand auf dem Tisch abzustützen. Wenn dem Mitarbeiter vor Ort jemand diesen Tipp gibt und er es direkt ausprobieren kann, spürt er die Erleichterung sofort. Diese direkten Anregungen unter Kollegen können in vielen Bereichen zu mehr Ergonomie beitragen, etwa wenn eine Last zu weit vom Körper weg aufgenommen oder bei knienden Tätigkeiten kein Knieschutz getragen wird.

Gibt es noch weitere Ansatzpunkte?
Ganz wichtig ist der Austausch – unter Kollegen, aber auch unter Unternehmen. Niemand kann alles wissen und immer den Überblick über alle Möglichkeiten und Entwicklungen haben. Aber wenn Betriebe und Beschäftigte innerhalb eines Gewerks ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Lösungen und Vorgehensweisen austauschen, kann das sehr viel bringen. 
Eine weitere Möglichkeit, die bislang leider nur selten genutzt wird, sind betriebliche Regelungen. Man kann darin zum Beispiel verbindlich festlegen, dass man Lasten ab einem bestimmten Gewicht zu zweit trägt oder dass Tätigkeiten nur mit entsprechenden Hilfsmitteln ausgeführt werden. Das würde die Position der Beschäftigten stärken, wenn es darum geht, hohe Belastungen oder unergonomische Ausführungen zu vermeiden. Insgesamt bieten die Unternehmen inzwischen mehr Gesundheitsangebote wie Vorträge, Ausgleichssport oder Rückenschule an. Das ist ein wichtiger Baustein. Aber noch wichtiger ist es, die Beschäftigten einzubeziehen und gemeinsam Ideen zu entwickeln, was sie wirklich brauchen. Nur wenn in den Veränderungsprozess Verhältnis- und Verhaltensprävention einfließen, können die Bemühungen zum Erfolg führen.

Ideen für mehr Ergonomie

Inzwischen sind etliche ergonomische Lösungen auf dem Markt, die dafür sorgen, dass belastende Arbeiten buchstäblich weniger auf die Knochen gehen. So simple wie effektive Produkte wie Knieschutzhosen mit Einlegepolster, Kniesitze oder Tragegriffe gehören ebenso dazu wie Führungswagen für Langhalsschleifer, Bindegeräte, elektrische Treppensteiger und Teleskopstiele für die Bodenreinigung. Die BG BAU hat online eine Informationsplattform für ergonomische Hilfsmittel, Geräte und Maschinen eingerichtet, die sich von Abbruch- bis Zimmererarbeiten nach einzelnen Gewerken filtern lässt. Auch eine Suche nach Lösungen für unterschiedliche Körperzwangshaltungen und Belastungen ist möglich.
https://www.bgbau.de/service/angebote/ergonomische-loesungen/