Doping für Gehirn und Psyche

Medikamente können die Konzentration verbessern, das Wohlbefinden steigern sowie Ängste und Nervosität abbauen. Das nutzen auch viele Beschäftigte, um am Arbeitsplatz leistungsfähiger zu sein. Aber es gibt Risiken…

Auf den ersten Blick ist die Idee verlockend, die Leistung des Gehirns mithilfe von psychoaktiven Medikamenten zu steigern: Studierende wollen leichter durch Prüfungen kommen, Erwerbstätige ihren stressigen Berufsalltag besser bewältigen, Manager und Wissenschaftler permanent zu geistigen Spitzenleistungen in der Lage sein. Dafür greifen manche Konsumenten zu illegalen Substanzen wie Kokain und Ecstasy, andere zu verschreibungspflichtigen Mitteln, wie das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Pharmakologisches Neuroenhancement“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Universitätsmedizin Mainz zeigt. „In dem Glauben, dass diese ihre Leistung vermeintlich stärker steigern können als bis dato übliche und legale Mittel wie beispielsweise Koffein, unterschätzen sie die Gefahr von Nebenwirkungen“, haben die Wissenschaftler beobachtet.

Bislang wird das Schlagwort Doping meist mit dem Leistungssport in Verbindung gebracht, dringt jedoch zunehmend auch in andere Lebensbereiche vor – überall dort, wo es um die geistige Leistungsfähigkeit und die Verbesserung des emotionalen Gleichgewichts geht, also vor allem in der Arbeitswelt. Da das Wort Doping negativ besetzt ist, hat sich der Begriff Neuroenhancement durchgesetzt. Als pharmakologisches Neuroenhancement gilt die Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente mit der Absicht, Hirnfunktionen wie Erinnern, Wachheit oder Konzentration zu steigern, das psychische Wohlbefinden zu verbessern oder Ängste und Nervosität abzubauen. Wichtig bei dieser Definition ist, dass es um verschreibungspflichtige Medikamente geht – nicht um frei verkäufliche Präparate wie Ginkgo-Biloba-Extrakte, Baldrianpräparate oder Koffeintabletten – und dass die Einnahme ohne konkrete Indikation, also nicht zur Therapie einer Krankheit und damit missbräuchlich erfolgt.

Wichtig ist darüber hinaus die Breite des Bereichs, den der Begriff Neuroenhancement abdeckt. Umgangssprachlich wird unter Hirndoping lediglich die geistige Leistungssteigerung (Cognitive Enhancement) verstanden, also die Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, der Lernfähigkeit und Wachheit sowie der Fähigkeit, mit weniger Schlaf auszukommen. Gerade mit Blick auf die Arbeitswelt werten Wissenschaftler aber auch die Verbesserung des psychischen Wohlbefindens (Mood Enhancement) als pharmakologisches Neuroenhancement, da bei vielen Tätigkeiten nicht nur eine gewisse kognitive Leistungsfähigkeit erforderlich ist, sondern auch Kompetenzen im Umgang mit Menschen verlangt werden – bis hin zu ausdrücklichen Anforderungen an Freundlichkeit, Einfühlungsvermögen, Charisma oder Begeisterungsfähigkeit. Ähnliches gilt für das Ziel, Ängste und Nervosität abzubauen – wenn Beschäftigte beispielsweise schüchtern sind, bei Auftritten oder Präsentationen schnell nervös werden, stets die Nerven behalten oder eine ruhige Hand haben müssen.

In Deutschland nehmen immer mehr Beschäftigte verschreibungspflichtig Medikamente ein, ohne dass dafür eine medizinische Indikation vorliegt. Das zeigt der DAK-Gesundheitsreport von 2015. Dafür hat die DAK Arzneimitteldaten von 2,6 Millionen erwerbstätigen Versicherten analysiert und zusätzlich mehr als 5000 Berufstätige im Alter von 20 bis 50 Jahren befragt. Demnach nutzen knapp drei Millionen Deutsche verschreibungspflichtige Arzneimittel, um am Arbeitsplatz leistungsfähiger zu sein oder um Stress abzubauen. Und während die DAK im Jahr 2008 noch ermittelte, dass 4,7 Prozent der Beschäftigten bereits entsprechende Substanzen missbraucht haben, lag die Zahl 2015 bei 6,7 Prozent. Die Dunkelziffer schätzt die DAK sogar auf bis zu zwölf Prozent. Hochgerechnet auf die Bevölkerung haben damit fünf Millionen Erwerbstätige schon einmal leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente eingenommen – und unter den übrigen Erwerbstätigen ist jeder Zehnte für diese Form des Hirndopings prinzipiell aufgeschlossen.

Menschen, die an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten oder bei denen Fehler schwerwiegende Konsequenzen haben können, greifen vor allem zu leistungssteigernden Medikamenten, zeigt die DAK-Analyse. Beschäftigte, die viel mit Kunden zu tun haben, nehmen hingegen überwiegend Tabletten zur Stimmungsverbesserung. Und: Entgegen der landläufigen Meinung sind es nicht primär Top-Manager oder Kreative, die sich mit Medikamenten zu Höchstleistungen pushen wollen. Der DAK-Studie zufolge erhöht sich das Risiko für den Griff zur Tablette, je unsicherer der Arbeitsplatz und je einfacher die Arbeit selbst ist. Zudem spielt das Tätigkeitsniveau eine Rolle: Beschäftigte mit einer einfachen Tätigkeit haben zu 8,5 Prozent bereits Medikamente zur Leistungssteigerung oder Stimmungsverbesserung eingenommen, bei Gelernten oder Qualifizierten sind es 6,7 Prozent, bei den hochqualifizierten Beschäftigten 5,1 Prozent. Insgesamt werden zum Hirndoping am häufigsten Medikamente gegen Angst, Nervosität und Unruhe (60,6 Prozent) sowie Medikamente gegen Depressionen (34 Prozent) eingenommen. Etwa jeder achte Doper schluckt Tabletten gegen starke Tagesmüdigkeit, gut jeder zehnte nimmt Betablocker zur Beruhigung. Mehr als jeder Zweite bekommt für die entsprechenden Medikamente ein Rezept vom Arzt. Aber jeder Siebte erhält Tabletten von Freunden, Bekannten oder Familienangehörigen, und jeder Zwölfte bestellt sie ohne Rezept im Internet.

„Der Bezug aus dem Netz ist natürlich besonders riskant“, warnt Klaus Lieb, Facharzt und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz: „Dort gibt es viele Medikamentenfälschungen, die ohne Rezept abgegeben werden und der Gesundheit erheblich schaden können.“ Der Doping-Experte dämpft zudem die Erwartungen, die viele Konsumenten an das pharmakologische Neuroenhancement haben: „Eine Wunderpille gibt es nicht. Oft zeigen die Medikamente nur kurzfristige und minimale Effekte auf die kognitive Leistungsfähigkeit. Demgegenüber stehen hohe gesundheitliche Risiken – beispielsweise körperliche Nebenwirkungen bis hin zur Persönlichkeitsveränderung und zur Abhängigkeit.“ Herzrhythmusstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen, Nervosität und Schlafstörungen seien nicht selten – und mögliche Langzeitfolgen noch völlig unklar. „Langfristig gibt es bei regelmäßigem Gebrauch immer gesundheitliche Risiken“, sagt Joachim Boldt vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Darüber hinaus sei die Nutzung von Neuroenhancern potenziell ein Einstieg in eine Leistungssteigerungsspirale, die auch unabhängig von körperlichen Nebenwirkungen schädlich sei, weil sie die Lebenszufriedenheit verringere. Boldt: „Es werden gesamtgesellschaftliche Anforderungen, beispielsweise effizientere und kostengünstigere Arbeitsabläufe, an den Einzelnen weitergegeben, statt diese an den Bedürfnissen der Menschen auszurichten.“

Es gibt jedoch auch Stimmen, die sich für das pharmakologische Neuroenhancement aussprechen, oder zumindest für eine Diskussion darüber, ob in manchen Berufen – Piloten, Chirurgen, Soldaten – Neuroenhancement nicht geradezu geboten sein könne. „Wir vertreten die Ansicht, dass es keine überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen die pharmazeutische Verbesserung des Gehirns oder der Psyche gibt“, schrieb eine Projektgruppe der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen bereits 2009 in ihrem Memorandum „Das optimierte Gehirn“. Den Autoren zufolge gehört das Bemühen um bessere geistige Leistungen zu den Grundprinzipien einer modernen Leistungsgesellschaft. Wenn dies mithilfe von Pharmaka gelingen könne, sei das legitim und wünschenswert. Zudem habe jeder das Recht, über seinen Körper und Geist selbst zu entscheiden.

Auch Eckart Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, spricht sich für eine differenzierte Sicht aus. Rund 60 Prozent der Solospieler im Orchester greifen Altenmüller zufolge sporadisch zu Betablockern. Diese Medikamente sind eigentlich für Herzkranke gedacht, sie senken Pulsfrequenz und Blutdruck. Unter ihrer Wirkung absolvieren die Künstler ihre Auftritte innerlich immer noch aufgewühlt, aber körperlich ruhiger. Gerade bei jungen Musikern, bei denen ein Probespiel über die weitere Karriere entscheiden könne, hält Altenmüller eine kurzfristige Einnahme für vertretbar. Wenn der Leidensdruck der Musiker zu groß werde, müsse man den Teufelskreis zwischen Angst, negativer Erwartungshaltung und misslingendem Probespiel unterbrechen. Betablocker seien in solchen Fällen ein verträgliches Mittel ohne körperliche Nebenwirkungen. Eine andere Frage sei, wie die Psyche auf Dauer damit klar kommt, wenn Erfolg an den Konsum von Medikamenten gekoppelt wird. Deshalb betont Altenmüller, Betablocker nur als kurzfristige Lösung, sozusagen als Feuerwehr zu empfehlen. „Wenn jemand auch nach jahrelanger Routine mit Aufführungssituationen nicht klar kommt, sollte er sich überlegen, ob Musiker wirklich der richtige Beruf ist.“

Ganz so drastisch müssen die Schritte allerdings nicht sein, um dem Rückgriff auf Medikamente vorzubeugen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) hat Empfehlungen formuliert, mit denen Beschäftigte ihre kognitive Leistungsfähigkeit sowie ihr emotionales und soziales Wohlbefinden steigern können. Ansatzpunkte für die betriebliche Prävention zeigen Susanne Hildebrandt von der FU Berlin und Jörg Marschall vom IGES Institut in einem gemeinsamen Kapitel des Fachbuchs „Erfolgsfaktor Gesundheit in Unternehmen: Zwischen Kulturwandel und Profitkultur“: Erstens sollten Beschäftigte in ihrer häufig ohnehin vorhanden Einschätzung bestärkt werden, dass vermeintlich geeignete Mittel zum Hirndoping keinen Nutzen in konkreten beruflichen Situationen bieten, dabei aber teils erhebliche Risiken und Nebenwirkungen aufweisen. Zweitens sollten Alternativen aufgezeigt und auch durch die betrieblichen Verhältnisse unterstützt werden, welche die geistige Leistungsfähigkeit und das psychische Wohlbefinden erhalten, regenerieren und fördern. Drittens sollten mit den Mitteln der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung sowie der Arbeitsgestaltung Bedingungen geschaffen werden, die die Verwendung von Hirndoping nicht begünstigen – insbesondere müssten Leistungsanforderungen dem Leistungsvermögen der Beschäftigten gerecht werden. „Hirndoping ist kein Massenphänomen“, sagt Marschall. Aber aus der Forschung sei bekannt, dass der Druck am Arbeitsplatz steige – für Unternehmen und Vorgesetzte wachse daher die Verantwortung.