Durch dick und dünn
Bei Essstörungen geht es um mehr als die Ernährung. Sie gehören ähnlich wie exzessives Spielen oder Surfen zu den nicht substanzgebundenen Süchten. Daher sollten Kollegen und Vorgesetzte Essstörungen so ernst nehmen wie jede andere Sucht – und die Betroffenen nicht damit allein lassen...
Dass der neue Kollege ein bisschen dünn ist, fanden die anderen Teammitglieder zwar schon. Aber Sorgen gemacht hat sich zunächst niemand, schließlich lief der 42-jährige in seiner Freizeit Marathon. Seinen Job erledigte er außerdem gut: immer pünktlich und gewissenhaft, engagiert und hilfsbereit. In stressigen Phasen spendierte er den Kolleginnen und Kollegen gerne Kuchen, obwohl er selbst Süßem nicht viel abgewinnen konnte. Auch mittags in der Kantine trank er häufig nur einen Kaffee, um nach Feierabend direkt die Laufschuhe zu schnüren. Ein guter Weg, Stress abzubauen – denn Gero konnte an manchen Tagen dünnhäutig und unkonzentriert sein. Als er mal wieder frierend im gut geheizten Büro saß und brüsk das Angebot einer Kollegin ablehnte, ihm eine Tasse Brühe zu bringen, fing diese doch an zu grübeln. Niemand sah Gero jemals essen, auch nicht bei der jüngsten Weihnachtsfeier. Aber sie war unsicher: Können Männer überhaupt eine Essstörung haben, gar magersüchtig werden?
Ganz eindeutig ja, bestätigt Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der auf Essstörungen spezialisierten Schön Klinik Roseneck. Essstörungen treten seiner Erfahrung nach zwar deutlich häufiger bei Frauen auf, doch auch Männer können an jeder Art dieser Krankheit leiden (siehe Kasten „Essstörungen – die wichtigsten Formen“). Wichtig ist aus Sicht von Experten vor allem, ihre Brisanz nicht zu unterschätzen. „Essstörungen sind keine Ernährungsstörungen, sondern psychosomatische Erkrankungen mit Suchtcharakter“, sagt die Hamburger Ökotrophologin Birgit Schramm. Die Essstörung selbst sei als Symptom einer darunter liegenden Problematik zu verstehen oder als Versuch, schwierige Situationen zu bewältigen. Schramm: „Betroffene haben entweder das Gefühl, keine Kontrolle über ihr Essverhalten zu haben – beispielsweise bei Bulimie oder beim Binge Eating. Oder sie wollen, wie bei der Magersucht, totale Kontrolle ausüben.“
Die Krankenkassen schätzen, dass in Deutschland rund fünf Millionen Menschen an einer Essstörung leiden. Ursachen und Auslöser sind noch nicht eindeutig geklärt, genetische Faktoren scheinen ebenso eine Rolle zu spielen wie die Persönlichkeit und das Umfeld. Der Medienmanager Christian Frommert, der in seinem Buch „Dann iss halt was!“ seinen Kampf mit der Magersucht beschrieben hat, sieht beispielsweise deutliche Wechselwirkungen mit dem gesellschaftlichen Leistungsdruck: „Der eine bekommt einen Burnout, der andere hört auf zu essen, der nächste greift zur Flasche. Die Mechanismen unterscheiden sich, aber die Auslöser sind aus meiner Sicht die gleichen.“ Die Folge sind in vielen Fällen Mangelerscheinungen, Herz-Kreislauf-Probleme, Zahnschäden, Osteoporose, Schlafstörungen, Leistungseinbußen und Depressionen. „Im Gegensatz zu Alkohol- oder Drogenproblemen gibt es bei Essstörungen zunächst keine gravierend negativen Folgen im Arbeitsverhalten“, heißt es bei der Suchtberatungsstelle der Universität Würzburg. Gerade wegen der vielfältigen möglichen Begleit- und Folgeerkrankungen sei eine möglichst frühe Behandlung jedoch sehr wichtig.
Natürlich haben nicht alle untergewichtigen Menschen eine Essstörung – und nicht allen Betroffenen sieht man eine Essstörung an. Laut Suchtberatungsstelle gibt es Auffälligkeiten, die Kollegen und Vorgesetzte hellhörig machen sollten. Im Arbeitsverhalten könne das ein Hang zum Perfektionismus sein, verbunden mit großen Leistungsansprüchen an sich selbst. Eine Mangelernährung über einen längeren Zeitraum könne zu schwankendem Leistungsvermögen, Konzentrationsmangel und Gedächtnislücken führen. Als mögliche Auffälligkeiten im Sozialverhalten nennt die Suchtberatungsstelle unter anderem Überreaktionen bei Kritik, Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, Stimmungsschwankungen und Niedergeschlagenheit, Überangepasstheit und sehr korrektes Verhalten sowie Isolation als Folge der Vernachlässigung von Freundschaften und gemeinsamen Aktivitäten. Auffälligkeiten rund ums Essen lassen sich der Suchtberatungsstelle zufolge auch häufig beobachten: sehr kleine oder sehr große Portionen, Ausreden bei Verabredungen zum gemeinsamen Essen. Im Erscheinungsbild würden vor allem Magersüchtige wegen ihres augenfälligen Untergewicht auffallen – bei den anderen Essstörungen gebe es dagegen oft keine eindeutigen Auffälligkeiten.
Beim Verdacht auf eine Essstörung sollten Kollegen oder Vorgesetzte den Betroffenen ohne Vorwürfe darauf ansprechen, beispielsweise dass einem eine starke Gewichtsveränderung aufgefallen ist; sie sollten ihre Sorge darüber ausdrücken und Unterstützung anbieten. Denn wie bei anderen Abhängigkeitserkrankungen und Süchten ist es ein wichtiges Merkmal von Essstörungen, dass Betroffenelange davon überzeugt sind, ihr Verhalten sei völlig normal – so wie Gero.
Essstörungen – die wichtigsten Formen
● Anorexia nervosa: Bei Magersucht wird die Nahrungszufuhr auf ein Minimum reduziert. Die Betroffenen nehmen sich trotz Untergewichts als zu dick wahr.
● Bulimia nervosa: Bei der Ess-Brech-Sucht kommt es zu Heißhungerattacken gefolgt von absichtlichem Erbrechen oder dem Missbrauch von Abführmitteln. Als Auslöser für den Heißhunger gelten emotionale Faktoren wie psychischer Stress oder Unzufriedenheit, mögliche Gründe für das Erbrechen sind die Angst zuzunehmen sowie Scham über die Fressattacke.
● Binge-Eating-Disorder: Periodische Heißhungeranfälle gelten als die am weitesten verbreitete Essstörung. Dabei wird in sehr kurzer Zeit eine sehr große Menge Nahrung gegessen. Psychologen gehen davon aus, dass so unangenehme Empfindungen unterdrückt werden.
● Biggerexie: Der sogenannte Adoniskomplex ist eine spezielle Essstörung bei Männern. Betroffene streben einen besonders muskulösen Körperbau an und neigen daher zu exzessivem Sport in Verbindung mit Diäten und eventuell der Einnahme riskanter Anabolika.
● Orthorexie: Der Zwang, absolut gesund essen zu müssen, hat noch keinen Einzug in die offiziellen Diagnoserichtlinien gefunden. Betroffene setzen sich exzessiv mit den gesundheitlichen Aspekten ihres Essens auseinander.
● Adipositas: Übergewicht gilt nicht als Essstörung im eigentlichen Sinn, kann aber eine Folge beispielsweise von Bulimia nervosa oder Binge Eating sein.