Eine Frage der Haltung

Tätigkeiten auf den Knien, Überkopfarbeit, langes Stehen oder Sitzen ohne Bewegungsmöglichkeit– ungünstige Körperpositionen gehören in vielen Berufen zum Alltag. Wenn keine oder kaum Ausgleichsbewegungen möglich sind, können solche Zwangshaltungen zu verschiedenen gesundheitlichen Beschwerden führen, vor allem zu Muskel-Skelett-Erkrankungen. Aber es gibt praktische Maßnahmen, mit denen sich Beanspruchungen verringern lassen.

Eigentlich hat die Evolution den Menschen für dynamische Bewegungen optimiert, vor allem für das aufrechte Laufen – das zeigen etliche anatomische Merkmale von den Zehenspitzen bis zum Nackenband an der Halswirbelsäule. Der Arbeitsalltag vieler Beschäftigter hat mit diesem biologischen Programm nicht mehr viel zu tun. Die meisten bewegen sich zu wenig – und wenn doch mehr Bewegung gefragt ist, ist sie nicht selten belastend. Davon zeugen unter anderem Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE), die nach aktuellen Zahlen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) fast ein Viertel aller Diagnosetage bei Arbeitsunfähigkeit ausmachen.

Die meisten arbeitsbedingten MSE entwickeln sich über einen längeren Zeitraum und lassen sich häufig nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Das Heben und Tragen von schweren Lasten gilt als typischer Risikofaktor, ebenso Vibrationen, einseitige Belastungen, Bewegungsmangel oder Stress. Sogenannte Körperzwangshaltungen sind ein weiterer entscheidender Aspekt. Zwangshaltungen entstehen immer dort, wo die Tätigkeit, das Arbeitsmittel oder die Gestaltung des Arbeitsplatzes den Menschen dazu zwingen, Körperhaltungen mit geringen Bewegungsmöglichkeiten über eine längere Zeit hinweg einzunehmen. Dabei kann es sich um statische Haltungen wie Stehen, Knien oder Sitzen handeln oder um ungünstige Ausführungsbedingungen, die Arbeiten über Schulterniveau oder Verdrehungen oder Neigungen von Oberkörper oder Kopf erfordern. Betroffen sind viele Branchen und Berufe, vom Bau bis zur Pflege.

Die BAuA hat in ihrem in diesem Jahr erschienenen „Handbuch Gefährdungsbeurteilung“ die wichtigsten Typen von Körperzwangshaltung – die oft auch in Kombination auftreten – mit ihren möglichen akuten und chronischen gesundheitlichen Folgen dargestellt.

• Arbeiten im Hocken oder Knien, im Fersen- oder Schneidersitz belasten besonders das Kniegelenk sowie den Nacken und die Wirbelsäule. Mögliche Folgen sind schmerzhafte Verspannungen, Überlastungen der Muskel- und Bandstrukturen in den Kniegelenken, Reizungen und Entzündungen der Schleimbeutel, Arthrosen und Meniskusschäden sowie Krampfadern in den Beinvenen.
• Arbeiten in Rumpfbeuge sind für die Lendenwirbelsäule, die Hüfte sowie die Rücken- und Oberschenkelmuskulatur problematisch – besonders wenn in dieser gebeugten Haltung auch noch eine Last bewegt und der Oberkörper gedreht wird. Konsequenzen sind Überlastungen der Muskeln und Bänder mit der Folge von akuten Rückenbeschwerden, chronische Rückenschmerzen mit Bewegungseinschränkungen sowie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule insbesondere im Lenden- und Halsbereich.
• Bei Arbeiten über Kopf- oder Schulterniveau ist die lange statische Haltearbeit eine Herausforderung für die Nacken-, Arm- und Schultergürtelmuskulatur sowie die Schultergelenke. Oft ist auch die Wirbelsäule betroffen, da es gleichzeitig zu einer Überstreckung des Oberkörpers kommt. Bei Beschäftigten kann es akut zu Schmerzen und anderen Beschwerden im Bereich der Schultern, der Arme, des Nackens und des oberen Rückens sowie zu Kopfschmerzen führen. Auch chronische Funktionsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule und der Schulter-Nacken-Muskulatur werden beobachtet, außerdem degenerative Erkrankungen der Schulter wie das Rotatorenmanschettensyndrom und das Impingementsyndrom.
• Dauerhaftes Stehen ohne die Möglichkeit, die Haltung zu verändern, belastet die gesamte untere Körperhälfte – Lendenwirbelsäule, Hüftgelenke, Knie und Füße. Auch die Beinvenen können leiden. Denn während bei Bewegung die Waden- und Schienbeinmuskulatur als Muskelpumpe den Rückfluss des Blutes zum Herzen unterstützen, müssen bei langem Stehen Gefäßwände und Venenklappen ohne diese Unterstützung auskommen. Akut kann ein Schweregefühl in den Beinen oder auch deren Anschwellen die Folge sein, auf Dauer sind Krampfadern möglich.
• Erzwungenes Sitzen ohne wirksame Pausen ist ebenfalls belastend, vor allem für Halswirbelsäule, Nacken, Schultern und Arme, was zu schmerzhaften Verspannungen führen kann. Außerdem sind wegen des Bewegungsmangels Verkürzungen der Muskulatur und Durchblutungsstörungen möglich, außerdem Kreislaufbeschwerden und Übergewicht.

Die meisten Probleme durch Zwangshaltungen entstehen, weil die ungünstigen Positionen im Laufe eines Arbeitstages häufig und lang eingenommen werden müssen. Kurzfristig einwirkende Belastungen kann der Körper in der Regel gut kompensieren. Fehlen jedoch die Erholungsphasen, können sich Organismus und Muskulatur nicht ausreichend erholen.

Immerhin: Für die notwendige Erholung von Muskeln und Gelenken lässt sich aktiv etwas tun. Die Arbeitsmedizin empfiehlt beispielsweise, Arbeitsplätze beziehungsweise Arbeitsaufgaben generell so zu gestalten, dass ein Wechsel der Körperhaltung und damit eine Unterbrechung der Zwangshaltung möglich ist. Lassen sich Tätigkeiten im Knien oder Sitzen, mit erhobenen Armen oder vorgebeugtem Oberkörper nicht vermeiden, sollte die Arbeit so organisiert werden, dass Beschäftigte zwischendurch immer wieder aufstehen, sich aufrichten oder die Arme entspannen können. Wenn Arbeiten sowohl im Stehen als auch im Sitzen ausgeübt werden können, sind häufige Wechsel zwischen beiden Haltungen sinnvoll. Und auch eine Jobrotation kann dafür sorgen, dass die Tätigkeit in einer Zwangshaltung für den einzelnen Beschäftigten auf den Arbeitstag gesehen nur kurz ist.

Weiterer wichtiger Ansatzpunkt ist die Ergonomie. Bei Sitzarbeitsplätzen beispielsweise sollte auf die richtige Höhe des Arbeitsplatzes sowie Haltungswechsel und Erholungsphasen geachtet werden. Bei Steharbeit hilft vor allem eine angemessene Arbeitsplattenhöhe und die Bereitstellung einer Stehhilfe. Auch manche Arbeiten, die häufig auf dem Boden stattfinden, lassen sich auf eine ergonomische Arbeitshöhe verlegen – etwa Vormontagen oder das Schneiden von Fliesen. Und statt die Arme ständig über Schulterniveau zu heben, können Beschäftigte Kleingerüste und Arbeitsbühnen nutzen.

Hinzu kommt: Nicht bei allen Beschäftigten führen Arbeiten in Zwangshaltungen zu Beschwerden oder Erkrankungen. Die individuellen Ressourcen entscheiden mit. Beispielsweise kann ein regelmäßiges, gesundheitsorientiertes Training einseitige muskuläre Belastungen ausgleichen, gleichzeitig unterstützt eine gut trainierte Muskulatur Sehnen, Bänder und Gelenke. Entsprechende betriebliche Bewegungsangebote können daher ebenfalls viel dazu beitragen, Beeinträchtigungen und Erkrankungen durch Zwangshaltungen zu verhindern. Sinnvoll ist ebenfalls eine Schulung günstiger Körperhaltungen und Bewegungsabläufe. Die BG Bau bietet dafür beispielsweise ein „Kniekolleg“ sowie ein „Rückenkolleg“ in Kooperation mit berufsgenossenschaftlichen Reha-Zentren an. Dabei lernen Beschäftigte in Trainings- und Schulungseinheiten, die auch auf  speziellen Übungsbaustellen in den Reha-Kliniken stattfinden, wie sie mit berufsbedingten Belastungen von Knie und Rücken besser umgehen.

An arbeitsmedizinischen Angeboten führt ohnehin kaum ein Weg vorbei. Das schreiben die Arbeitsmedizinischen Regeln (AMR) und die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) vor, welche die Höhe der körperlichen Belastung definieren und das Recht auf arbeitsmedizinische Angebotsvorsorge regeln. Eine Pflicht zu solchen Angeboten existiert bereits, wenn länger als eine Stunde pro Schicht in Rumpfbeugehaltungen, im Knien oder über Schulterniveau gearbeitet wird oder wenn die Beschäftigten länger als zwei Stunden statisch sitzen oder mehr als vier Stunden dauerhaft stehen müssen. Wer diese Grenzen nicht überschreitet, kann jedoch ebenfalls Hilfe bekommen: Über den Weg der sogenannten Wunschvorsorge kann sich jeder Beschäftigte arbeitsmedizinisch beraten lassen.

Exoskelette als Helfer?

Inwiefern Exoskelette die manuelle Handhabung von Lasten oder Tätigkeiten in Zwangshaltungen erleichtern und so wirksam vor Muskel-Skelett-Erkrankungen schützen können, ist noch nicht abschließend untersucht. Die 2020 veröffentlichte Leitlinie „Einsatz von Exoskeletten im beruflichen Kontext zur Primär-, Sekundär-, und Tertiärprävention von arbeitsassoziierten muskuloskelettalen Beschwerden“ fasst Studienergebnisse, Expertenmeinungen und Erfahrungen von Anwendern aus dem betrieblichen Setting zum Einsatz von Exoskeletten zusammen. Demnach kann – auf Basis des derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstands und der Erfahrungen aus der beruflichen Praxis – zurzeit keine präventive Wirkung von Exoskeletten auf Muskel-Skelett-Beschwerden oder sogar Muskel-Skelett-Erkrankungen begründet werden. Denn der Leitliniengruppe zufolge lassen die vorliegenden Probandenstudien keine solchen Aussagen zu, Längsschnittstudien gibt es bislang nicht, und viele wissenschaftliche Fragestellungen hinsichtlich der Nutzung von Exoskeletten zur Unterstützung beruflicher Tätigkeiten sind noch ungeklärt. So lange ein gesundheitlicher Vorteil durch die Verwendung von Exoskeletten bei beruflichen Tätigkeiten nicht durch wissenschaftliche Evidenz gesichert ist, soll daher die Nutzung eines Exoskeletts für die Beschäftigten freiwillig sein.
https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/002-046l_S2k_Exoskelette_2020-07.pdf

Fit mit Napo

Napo ist die Hauptfigur einer Trickfilmserie, die einige europäische Organisationen gemeinsam produziert haben, um wichtige Themen im Hinblick auf Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit auf einprägsame und spielerische Art und Weise anzusprechen. Seit 2007 hilft Napo bei der Bekämpfung unter anderem von Muskel- und Skeletterkrankungen am Arbeitsplatz – nicht mit Worten, sondern mit allgemein verständlichen Gesten. Ziel ist, auf humorvolle Weise wertvolle Ratschläge zu vermitteln. Zusätzlich zu den Filmen stehen online Materialien zur Verfügung, die dabei helfen sollen, die Inhalte der Filme zu vermitteln und zu vertiefen.
https://www.napofilm.net/de