„Menschenwürdige Arbeit und ökonomisches Wachstum sind keine Gegensätze“

Nachhaltigkeit hat viele Facetten und geht weit über ökologische Themen hinaus. Wir sprachen mit Dr. Annette Niederfranke, Direktorin der Deutschland-Repräsentanz der International Labour Association, über den Einsatz der ILO für menschenwürdige Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit entlang internationaler Lieferketten…

Frau Dr. Niederfranke, wie definiert die ILO den Begriff Nachhaltigkeit?
Für die ILO ist seit ihrer Gründung und auf der Basis ihres Grundmandats klar, dass zur Nachhaltigkeit menschenwürdige Arbeit und soziale Gerechtigkeit weltweit zählen. Dies schließt die Arbeitswelt, aber auch die soziale Absicherung über den Lebenslauf hinweg ein. Die Arbeitsbedingungen und die erzielten Einkommen müssen Menschen in die Lage versetzen, ihr Leben finanziell zu bewältigen, und das ohne die Umwelt zu schädigen. Dort greift dann auch die unternehmerische Verantwortung in der Sicherung der Arbeitsbedingungen, denn es sind primär Unternehmen, die Jobs schaffen. Wir haben darüber hinaus einen großen Handlungsbedarf, Arbeitsplätze vor allem auch in der informellen Wirtschaft – also für immerhin 61 Prozent der Menschen weltweit – so zu gestalten, dass die ökologische Nachhaltigkeit gewährleistet ist, die Arbeitsbedingungen menschenwürdig sind und die Menschen davon leben können.

Stichwort „weltweit“: Sind aus Ihrer Sicht diese globalen Dimensionen von Wirtschafts- und Arbeitsprozessen allen Akteuren ausreichend bewusst?
Wir sehen durch die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, dass dieser Bereich zunehmend in den Fokus gerät. Die ILO hat seit ihrer Gründung 1919 die weltweite Verknüpfung von Arbeit und somit auch die Tatsache, dass Menschen ihre Länder verlassen, um in anderen Ländern zu arbeiten, im Blickfeld gehabt – früher sprachen wir von Wanderarbeitern. Was neu hinzugekommen ist und alles noch brisanter macht, ist tatsächlich der Punkt, dass viele Produktionsprozesse von Waren, aber auch von Dienstleistungen, in globalen Verkettungen stattfinden: Alles, was wir anziehen, und Produkte, die wir essen oder für das tägliche Leben brauchen, werden nicht mehr dort produziert, wo wir leben, sondern häufig in anderen Kontinenten. Das macht die Wertschöpfungsketten zu einer ganz besonderen Herausforderung für die Gestaltung von Nachhaltigkeit – aber eigentlich auch zu einem guten Hebel. Allerdings muss man bei Regelungen und Maßnahmen Ländergrenzen und die Grenzen von Kontinenten überwinden und die Frage klären, wie man das rechtlich regeln kann. Das ist die Schwierigkeit, vor der wir heute stehen.
Wichtig ist, dass menschenwürdige Arbeit und ökonomisches Wachstum – so heißt das achte Entwicklungsziel – keine Gegensätze sind, sondern zusammengehen und zusammen gehören. Ein sehr zentraler Punkt ist dabei die Geschlechterfrage. Wir haben in dem Bereich von menschenwürdiger Arbeit tatsächlich immer noch eine besondere Last bei Frauen, die in höchstem Maße im informellen Sektor tätig sind, also in Bereichen wie Fürsorge, Landwirtschaft, Lebensmittelerzeugung und Dienstleistungen. In diesen Bereichen gibt es per se – es ist immer das gleiche Muster – eine schlechtere Bezahlung, einen schlechteren Arbeitsschutz und eine schlechtere soziale Absicherung. Daher arbeitet die ILO auch stark für das fünfte Entwicklungsziel der UN, also die Geschlechtergleichstellung.

Gibt es beim Blick auf die internationale Arbeitsteilung weitere besonders wichtige Handlungsfelder?
Es sind mehrere Punkte, auf die wir achten müssen. Das eine ist, dass bislang sehr häufig oder fast ausschließlich die Unternehmen aus westlichen Industrienationen den wirtschaftlichen Nutzen aus globalen Lieferketten ziehen, was auch zur Wertschöpfung und zum Bruttosozialprodukt in diesen Ländern beiträgt. Wir müssen erreichen, dass die Wertschöpfung auch in Entwicklungs- und Schwellenländern stattfindet, also am anderen Ende der Lieferketten, dort wo produziert und gefertigt wird. Dabei geht es unter anderem um eine andere Verteilung von Geld, denn die Produktion ist häufig sehr billig und ein großer Teil der Wertschöpfung findet in den Zwischenbereichen statt, insbesondere im Handel. Daher ist es wichtig, die Lieferketten so zu gestalten, dass in den Produktionsländern ausreichende, d.h. lebenssichernde Löhne gezahlt werden, menschenunwürdige Arbeit – dies schließt auch Kinderarbeit ein – geahndet wird und soziale Absicherung stattfindet.

Wo setzt die ILO da an?
Kernmandat der ILO ist es, internationale Arbeitsnormen zu entwickeln. Inzwischen gibt es 190 Conventionen und 206 Empfehlungen mit unterschiedlichem Verbindlichkeitsgrad. Den höchsten Verbindlichkeitsgrad haben die acht Kernarbeitsnormen, die tatsächlich im Rang von Menschenrechten stehen – sie gelten unabhängig davon, ob einzelne Länder sie ratifiziert oder in nationales Recht umgesetzt haben. Von diesen Kernrechten leiten sich konkrete Maßnahmen ab, zum Beispiel Arbeitsschutz undArbeitssicherheit oder die Gründung von Gewerkschaften.
In den Ländern gehen wir so vor, dass wir Regierungen bei der nationalen Gesetzgebung beraten und unterstützen, gleichzeitig im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit vor Ort Unternehmen und Gewerkschaften begleiten und helfen, menschenwürdige Arbeitsbedingungen umzusetzen. Zusätzlich untersuchen wir die weltweite wirtschaftliche Entwicklung regelmäßig, das schließt auch die Löhne, Geschlechterfragen und soziale Absicherung ein. Das versetzt uns in die Lage, Empfehlungen zu geben und mit unserer Arbeit gegenzusteuern. Damit können wir objektiv zeigen, welche Maßnahmen Wirkung erzielen. Das ist unter anderem in internationalen Zusammenhängen, zum Beispiel im Bereich der G20-Staaten oder der G7-Staaten, ein ganz wichtiges Instrument.

Können Sie ein aktuelles Beispiel Ihrer Arbeit schildern?
Ein gutes Beispiel sind die Anrainerstaaten von Syrien. Wir vergessen bei unserem Blick auf Europa oft, dass die Staaten rund um Syrien – Jordanien, Libanon bis hin zur Türkei, aber auch Irak – von dem Syrienkrieg ganz besonders betroffen sind. In Libanon und Jordanien ist jeder Zweite ein Geflüchteter. Dadurch entsteht eine besondere Notwendigkeit, dort Menschen in Fertigkeiten und Fähigkeiten auszubilden, menschenwürdige Arbeitsplätze zu schaffen sowie Wirtschaft und Infrastruktur zu entwickeln – nicht nur für Geflüchtete, sondern auch für die einheimische Bevölkerung. Die Menschen haben Arbeit, die Familien können leben. Unsere Maßnahmen zielen auf Geflüchtete und die einheimische Bevölkerung gleichermaßen. Das ist ein sehr gelungenes Beispiel dafür, wie man Strukturen so aufbaut, dass sie Menschen helfen und die Arbeitsmärkte entwickeln.

Bei vielen deutschen Unternehmen, selbst bei KMU, sind die Lieferketten international. Was können die Unternehmen tun, um sich für menschenwürdige Arbeit und soziale Gerechtigkeit entlang der Lieferketten einzusetzen?
Viele Unternehmen fragen sich: Kann ich die Lieferkette überhaupt überblicken, und wie weit reicht meine Verantwortung? Es fehlt an Transparenz und Kontrollmöglichkeiten. Daher hat die ILO einen besonderen Schwerpunkt in der Beratung auch von mittelständischen Unternehmen und unterstützen sie mit konkreten Instrumenten. Aber die Politik darf die Unternehmen damit nicht allein lassen. Die Überprüfung von Standards vor Ort muss in der Hand der Staaten liegen. In Bangladesch beispielsweise fahren die Inspektoren mit Motorrädern über Land und tauchen unangekündigt in kleinen Unternehmen oder auch in Familien auf, wo Textilien gefärbt werden. Dort kontrollieren sie, ob die Standards eingehalten werden oder ob dort Kinder arbeiten oder Menschen ungeschützt mit gefährlichen Substanzen hantieren.
Wir empfehlen Unternehmen immer, sich die Länder, in die ihre Lieferketten reichen, genau anzusehen: Wurden die ILO-Kernarbeitsnormen in nationales Recht umgewandelt? Gibt es ein bestehendes Inspektionssystem? Wir haben einen eigenen Helpdesk, an das sich vorrangig mittelständische Unternehmen wenden können. Und wir haben ein großes eigenes Programm namens SCORE, das explizit darauf angelegt ist, mit Unternehmen zusammen Wege zur Implementierung von Standards zu finden.

Ist die Qualifizierung im Bereich Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit für die ILO auch ein Thema?
Die großen Unternehmen setzen häufig ihre Standards entlang der Lieferkette bis in das Produktionsland hinein um, manche bauen auch Weiterbildungs- oder Trainingszentren auf. Das können kleine Unternehmen oft nicht. Daher setzt sich die ILO dafür ein, dass in den Ländern entsprechende Einrichtungen entstehen, die sowohl für den Mittelstand geöffnet sind, der in der Lieferkette produziert, als auch – und das ist das wichtigste – für die kleinen Unternehmen vor Ort. In solchen Trainingszentren können wir Arbeiterinnen und Arbeiter, die zum Teil nicht lesen und schreiben können, direkt unterstützen und ihnen beispielsweise zeigen, wie man Schutzmasken anlegt, sich vor Sonne schützt und vieles mehr. Dafür hat die ILO Sonderprogramme wie etwa den „Vision Zero Fund“, der als Präventionsfond zum Ziel hat, tödliche oder verletzende Arbeitsunfälle zu vermeiden. Dabei gehen wir auch auf Bereiche ein, die ein großes Unternehmen gar nicht im Blick haben kann. Grundsätzlich ist unser Ziel, Strukturen zu schaffen, die Bestand haben. Wir werden als ILO initiativ tätig und sind auch nach der Anschubphase in den Ländern noch präsent. Aber wir sind nicht allein die Motoren zur weiteren Umsetzung, das müssen Staaten, Gewerkschaften und Arbeitgeber sein.

2019 ist die ILO 100 Jahre alt geworden. Was treibt die Organisation im Moment besonders um?
Wir beschäftigen uns sehr mit dem Thema Zukunft der Arbeit: Welche Arbeitsplätze fallen weg, welche Teile in Produktionsketten laufen Gefahr wegzufallen, weil Arbeiten automatisiert werden? Hinzu kommen neue Felder wie die Platform Economy. Zudem versuchen wir, sehr deutlich darauf hinzuweisen, dass wir hochindustrialisierte Nationen oder Regionen auf der Welt haben aber auch Regionen, wo es ganz anders aussieht. Diese Gleichzeitigkeit darf man nicht aus dem Blick verlieren. Die Grundidee der ILO ist, dass der Weltfriede nur sichergestellt und erhalten werden kann, wenn wir soziale Gerechtigkeit durchsetzen. Und soziale Gerechtigkeit endet eben nicht an den Toren Europas, sondern muss weit gedacht werden. Dazu gehören dann aber auch konkrete Maßnahmen, damit Menschen sicher und existenzsichernd arbeiten können, damit ihre Arbeitsplätze nachhaltig gestaltet sind – für die Menschen selbst, aber eben tatsächlich auch für die Umwelt. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, den wir auch als ILO immer wieder nach vorne holen müssen.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) wurde 1919 gegründet und ist damit die älteste Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Formulierung und Durchsetzung internationaler Arbeits- und Sozialnormen. Insbesondere geht es dabei um die Kernarbeitsnormen wie beispielsweise die Beseitigung von Zwangsarbeit und Kinderarbeit, das Recht auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivhandlungen, das Verbot von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf sowie die Gleichheit des Entgelts. Diese Kernarbeitsnormen sind als „qualitative Sozialstandards“ international anerkannt und haben den Charakter von universellen Menschenrechten. Zu den Zielen der ILO gehören aber auch eine soziale und faire Gestaltung der Globalisierung sowie die Schaffung von menschenwürdiger Arbeit als eine zentrale Voraussetzung für die Armutsbekämpfung. Damit gehören auch Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit zu den Schwerpunkten der ILO.
Die 187 Mitgliedsstaaten sind über eine dreigliedrige Struktur in der ILO vertreten: mit ihren Regierungen, aber auch mit ihren Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Für Unternehmen und betriebliche Interessensvertretungen, die vor konkreten praktischen Fragen stehen, sowie für Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften bietet die ILO ein Helpdesk an mit Serviceangeboten, Datenbanken und weiteren Hintergrundinformationen, die für die betriebliche Praxis relevant sind.
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Dr. Annette Niederfranke leitet seit 2014 als Direktorin der ILO die Repräsentanz in Deutschland. Zuvor war sie als Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sowie in anderen Führungspositionen des BMAS und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tätig. Sie arbeitet und publiziert zum demographischen und technologischen Wandel, zu geschlechtsspezifischen Fragen, Arbeitsmigration, Arbeits- und Sozialstandards, fairen Lieferketten und zur Zukunft der Arbeit.