Mit Schall gegen Lärm

Motor- und Getriebelärm kann in Fahrerkabinen zu erheblichen Geräuschbelastungen führen. Die Hamburger Recalm GmbH hat eine Lösung entwickelt, die diesem Lärm einen Dämpfer versetzt. Dafür erhielt das Unternehmen 2019 den Deutschen Arbeitsschutzpreis in der Kategorie Newcomer…

Lärm gehört zu den häufigsten Gefährdungen am Arbeitsplatz. Nach Zahlen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sind in Deutschland etwa fünf Millionen Beschäftigte gehörgefährdendem Lärm ausgesetzt. Wer sich dagegen schützen muss oder will, greift in der Regel zu Kapselgehörschützern, Helm-Kapselkombinationen oder Gehörschutzstöpseln. Ein anderes, quasi berührungsloses Mittel gegen Lärm hat die Hamburger Recalm GmbH entwickelt: Das Unternehmen setzt auf Antischall, wie man es von Kopfhörern mit Active Noise Cancelling beispielsweise von Bose oder Sennheiser kennt – nur eben ohne Kopfhörer. Recalm bedeutet in etwa „Ruhe wieder herstellen“, dazu passt das Firmenmotto „Making noise disappear“ (den Lärm verschwinden lassen).

„Ancor“ hat Recalm seine Neuentwicklung genannt. Der Name klingt an die Optik des Prototypen an, die an die Flunken, also den schaufelförmigen Teil eines Ankers erinnert. Durch diese Form lässt sich Ancor gut in Kopfstützen und Bediensitze von Fahrzeugen und Maschinen integrieren. Das technische Setup besteht zum einen aus mehreren Mikrofonen zur Aufnahme des vorhandenen Umgebungsgeräusches. „Ein Mikroprozessor entwickelt daraus ein Gegenschallsignal mit genau entgegengesetzter Polarität“, erklärt Recalm-Mitgründer Marc von Elling – und das mehrere tausend mal pro Sekunde. Dieses Gegengeräusch wird dann über zwei Lautsprecher ausgespielt, die in Ohrnähe in den Sitz eingebaut sind, was den Lärm durch die Überlagerung von positiver und negativer Schallquelle minimiert (siehe Kasten „Destruktive Interferenz“).

Die Tüftler streben eine Lärmreduktion von zehn bis 20 Dezibel an – im Durchschnitt soll der Lärm in der Kabine also gefühlt um mindestens 50 Prozent sinken, im besten Fall schafft das Akustikgerät sogar gefühlt 75 Prozent. In dieser dauerhaften Entlastung des Gehörs sieht von Elling einen besonders wichtigen Vorteil: „Ohne Schutz entstehen Probleme, da die Fahrer viele Stunden am Tag auf der Maschine sitzen. Das lässt das Hörvermögen in einem schleichenden Prozess immer schlechter werden.“ Außerdem: Starker und Dauerlärm gelten als ein wesentlicher Auslöser von Berufskrankheiten, für Geräuschbelastungen am Arbeitsplatz gibt es daher strenge Auflagen. Ist es weniger laut, darf ein Beschäftigter länger pro Tag in der Fahrzeugkabine sitzen.

Für Recalm ist dabei Lärm nicht gleich Lärm. „Wir konzentrieren uns auf den Frequenzbereich zwischen 100 und 500 Hertz, also auf eher tiefe Frequenzen, wie sie beispielsweise von Motoren kommen“, erläutert Lukas Henkel, der ebenfalls zum Recalm-Gründerteam gehört: „Der Effekt ist, als würde man den Bass wegnehmen, also dieses tiefe Wummern.“ Gleichzeitig sorgt der Ancor von Recalm – im Gegensatz zum klassischen Gehörschutz – dafür, dass gewünschte Töne beibehalten oder sogar akustisch selektiert werden, beispielsweise Anrufe oder Musik, aber auch Warnsignale, was unter dem Aspekt der Arbeitssicherheit besonders wichtig ist. Damit sind die Beschäftigten vor Lärm geschützt, aber von ihrer Umgebung nicht abgeschottet und auch in ihrer Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit nicht eingeschränkt – sie können sich zum Beispiel problemlos weiter über Funk mit den Kollegen verständigen und müssen keinen klassischen Gehörschutz tragen, der je nach Tätigkeit und Witterung oft als lästig empfunden wird. Und sämtliche Einstellungen sowie individuelle Nutzerprofile können per Mobile App und Bluetooth unkompliziert und intuitiv über das eigene Smartphone gesteuert werden.

Markteintritt und Serienproduktion des Ancors strebt Recalm übrigens für 2021 an, Mitte 2020 soll das Produkt in Vorserie gehen. Bereits seit dem Frühjahr 2019 finden erste konkrete Praxistests mit Pilotkunden aus dem Bau- und Landmaschinenbereich statt. In einer Anwendungssituation hat Recalm das Produkt beispielsweise auf der Messe bauma 2019 gemeinsam mit dem Systemlieferanten Fritzmeier CABS und anderen potenziellen Kunden vorgestellt. Und im November 2019 wurde das Start-up mit dem Deutschen Arbeitsschutzpreis in der Kategorie Newcomer ausgezeichnet.

Im Zuge der laufenden Feldtests mit der Hard- und der Software wird bei Recalm ständig über weitere technische Anpassungen oder Verbesserungen nachgedacht. Bei den Kabinenkonzepten beispielsweise gibt es noch Entwicklungsoptionen – schließlich sollen die Beschäftigten im Mittelpunkt stehen und ihnen das Arbeiten so angenehm wie möglich gemacht werden. In der Kabine projiziert das Recalm-Produkt zurzeit den Ruhebereich auf drei vorkonfigurierte, frei wählbare Ruhezonen. Per App sollen die Nutzer zwischen diesen drei Zonen wählen können – je nach Haltung und Kopfposition im Sitz. Im nächsten Entwicklungsschritt soll es Sensoren geben, welche die Kopfposition ermitteln, um die Ruhezone genau auf den jeweiligen Anwender auszurichten.

Auch bei den Einsatzmöglichkeiten des Ancor schaut man bei Recalm inzwischen über die ersten Anwendungen im Bereich Bau- und Landmaschinen hinaus, da sich die Technologie in praktisch jeden Sitz integrieren lässt. Ein Nachrüstsatz für die Kopfstütze wird nach ersten Kalkulationen etwa um die 3000 Euro kosten. „Unsere Vision ist es, die Lebensqualität von vielen Menschen nachhaltig zu verbessern, indem wir ihre Lärmbelastung reduzieren“, sagt Lukas Henkel: „Wir planen, eines Tages in Bussen, Bahnen, Autos und Flugzeugen vertreten zu sein.“

Destruktive Interferenz
Der Begriff Interferenz beschreibt die Überlagerung von zwei oder mehr Wellen. Wenn die jeweiligen Wellenberge genau aufeinandertreffen, verstärken sich die beiden Wellen – dieser Effekt wird konstruktive Interferenz genannt. Um eine destruktive Interferenz handelt es sich, wenn die Wellenberge der einen Welle genau auf die Wellentäler der anderen Welle treffen. Bei gleicher Amplitude löschen sich die Wellen gegenseitig aus. In der Akustik wird daher destruktive Interferenz genutzt, um störende Geräusche mit Antischall zu minimieren – im Idealfall auf null. Antischall wird auch Active Noise Reduction (ANR) oder Active Noise Cancellation (ANC) genannt.