Psychische Belastungen: Den Beschäftigten nicht in die Seele schauen

Die Berliner Stadtreinigung befragt ihre Beschäftigten seit 2015 zu psychischen Belastungen bei ihrer jeweiligen Tätigkeit. Im Zentrum steht dabei eine objektive und tätigkeitsbezogene Erfassung von Gefährdungen – nicht die Seele des Einzelnen…

Müllwerker müssen in ihrem Arbeitsalltag nicht nur mit Lärm, Staub und Wettereinflüssen, schweren Lasten und dem Straßenverkehr zurecht kommen. Das erlebte Werner K. von der Berliner Stadtreinigung (BSR) an einem Tag im März hautnah: Beim Schieben eines Müllcontainers auf einem Gehweg kam es zu einem Streitgespräch mit einem Passanten, der Werner K. schließlich anspuckte. In das folgende körperliche Gerangel mischten sich zwei weitere Passanten ein, so dass am Ende drei Personen auf den Müllwerker einschlugen – bis dieser sich in die Fahrerkabine des Abfallsammelfahrzeugs retten und die Polizei rufen konnte.

Der Müllwerker ist mit dieser Erfahrung nicht allein, so die Erfahrung von Christoph Benning. Der Leitende Sicherheitsingenieur der BSR kümmert sich seit 2014 systematisch um die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen bei dem Berliner Unternehmen, das 5300 Beschäftigte hat. Aus Sicht der BSR-Kraftfahrer nimmt beispielsweise die Aggressivität auf Berlins Straßen in der Tendenz zu – und in Kombination mit der spürbar zunehmenden Verkehrsdichte erleben die Müllwerker in zunehmender Zahl emotional schwierige Gesprächssituationen beziehungsweise Kontakte mit anderen Verkehrsteilnehmern. Aber auch die Beschäftigten in der Verwaltung sind belastet, beispielsweise durch Störungen im Arbeitsablauf, Zeit- und Termindruck oder problematische Kundenkontakte.

Welche Belastungen konkret auftreten, ist aus Sicht von Christoph Benning so vielfältig wie die Tätigkeiten und Berufe bei der BSR. Ungefähr 50 Gefährdungsbeurteilungen kommen bei dem Unternehmen zum Einsatz, mit psychischen Faktoren wird sich schon lange beschäftigt. Aber als der Gesetzgeber im Herbst 2013 auch die Ermittlung arbeitsbedingter psychischer Gefährdungen regelte, ging die BSR das Thema methodisch an. Insgesamt hat sie den Gesamtprozess der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen in vier Schritte gegliedert: erstens die Planung mit der jeweiligen Organisationseinheit, zweitens das Erfassen, Dokumentieren und Bewerten, drittens das Ableiten und Umsetzen von Maßnahmen sowie viertens die Überprüfung der Wirksamkeit.

In der Planungsphase hat die BSR gemeinsam mit ihrer Unfallkasse eine Methodik und einen Fragebogen zu arbeitsbedingten psychischen Belastungen entwickelt. Basis ist ein von der Unfallkasse des Bundes erarbeitetes Fragebogenkonzept. Dieses Konzept wurde im Frühjahr 2014 bei einem der BSR-Gesundheitstage, der psychische Belastungen als Schwerpunkt hatte, mit etwa 60 Führungskräften getestet. Anschließend wurde das Instrument unternehmensweit vorgestellt, diskutiert und ergänzt.

Ergebnis der Planungsphase war ein zweiseitiger, BSR-spezifischer Fragebogen für das Erfassen, Dokumentieren und Bewerten psychischer Belastungen, der auf Papier und in elektronischer Form zur Verfügung steht. Er umfasst etwa 40 Fragen zu den vier Themenfeldern Arbeitstätigkeit, Arbeitsorganisation, Arbeitsumgebung und Zusammenarbeit, deren Beantwortung etwa zehn Minuten dauert. 2015 hat die BSR unternehmensweit mit der Durchführung der Befragung begonnen; die Teilnahme ist freiwillig und anonym. Die Auswertung der Fragebögen wird durch das externe Institut für Ökonomie und Prävention (IÖP) durchgeführt.

Für das Ableiten und Umsetzen von Maßnahmen teilt die BSR die jeweiligen Ergebnisse zunächst der zuständigen Führungskraft mit. Es gilt dabei die Prämisse, dass zu den drei am häufigsten als Fehlbelastung genannten psychischen Belastungen in der jeweiligen Organisationseinheit Maßnahmen entwickelt werden sollen, außerdem zu den psychischen Belastungen, die mehr als zwei Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Befragung als Fehlbelastung benennen. Diese Maßnahmen sollen jedoch nicht von oben angeordnet, sondern in Workshops der jeweiligen Organisationseinheit gemeinsam überlegt und diskutiert werden. Danach werden die Vorschläge dokumentiert und ihre Umsetzung vereinbart.
Für die folgende Überprüfung der Wirksamkeit setzt die BSR vor allem auf die Fortsetzung des Dialogs im Unternehmen. Beispielsweise soll die Befragung mit dem Fragebogen etwa alle zwei Jahre wiederholt werden.

Wichtig ist Christoph Benning zufolge während des gesamten Prozesses eine wertfreie Behandlung des Themas psychische Belastungen. Eine Belastung ist schlicht ein Ereignis oder ein Reiz und damit neutral definiert. Eine Belastung ist eine Reaktion darauf, die Auswirkungen können – je nach individueller Leistungsfähigkeit – positiv oder negativ sein. Um den Blick weg von dieser individuellen Leistungsfähigkeit und hin zu den speziellen Tätigkeiten und ihren Bedingungen zu lenken, spricht Benning daher inzwischen lieber von psychischen Anforderungen.

Bennings Fazit zu der Fragebogenaktion fällt positiv aus. Insbesondere dort, wo die BSR im Vorfeld bei Veranstaltungen Sinn und Zweck der Befragung ausführlich erklären konnte, haben seinen Zahlen zufolge häufig fast 100 Prozent der Beschäftigten teilgenommen. Bei vielen ist es gut angekommen, dass sich das Unternehmen für ihre Situation interessiert. Hinzu kam, dass die BSR die Wahrung der Anonymität und einen vertrauensvollen Umgang mit den Ergebnissen garantiert hat.

Übrigens hat die Befragung bei der BSR nicht nur Belastungen zutage gebracht, sondern auch positive Aspekte: Kollegialität, ein gutes Betriebsklima, Zufriedenheit mit den erforderlichen Arbeitsmitteln und Ausrüstungen sowie mit dem Informationsfluss. Denn bei einer Gefährungsbeurteilung psychischer Belastungen geht es nicht nur um Defizite. Und noch einen wichtigen positiven Punkt gibt es laut Christoph Benning: „Alle bei der BSR haben sich mit dem Thema beschäftigt – und sowohl der einzelne Mensch als auch die Organisation lernt nach meinem Eindruck dabei und profitiert davon.“

Hilfreiche Filme
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Vier mögliche Quellen psychischer Belastungen

Arbeitsaufgabe/-inhalt
• Handlungsspielraum
• Verantwortung
• Komplexität

Arbeitsorganisation
• Termindruck
• Pausen
• Zeitdruck

Arbeitsmittel/-umgebung
• Maschinen
• Lärm
• Beleuchtung
• PSA

Soziale Beziehungen
• Führungsverhalten
• Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen