Von Erinnerungen verfolgt

Mehr als die Hälfte aller Menschen sind im Laufe ihres Lebens mindestens einmal mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, nicht wenige davon an ihrem Arbeitsplatz. Die Folge können schwere psychische Erkrankungen wie eine PTBS sein…

In der Theorie war sich Margit Schmidt bewusst, dass sie in ihrem Beruf als Kassiererin in einer Sparkasse einem gewissen Risiko ausgesetzt ist. Sie kannte Geschichten von Überfällen in anderen Filialen, kannte die Anweisung, sich nicht zu wehren, und den Spruch, dass der Mensch mit der Waffe immer die stärkeren Argumente hat. Doch als sie an einem Abend kurz vor Dienstschluss in den Lauf einer Pistole blickt, kann sie kaum begreifen, dass sie tatsächlich gerade im Zentrum eines bewaffneten Raubüberfalls steht. Passiert ist ihr an dem Tag nichts, und da der Täter schnell gefasst und später zu einer Haftstrafe verurteilt wird, ist die Sache für sie abgehakt. Auch als wenige Monate später erneut ein bewaffneter Mann vor ihrem Schalter steht, Kollegen und Kunden bedroht und sie zwingt, alle Scheine in eine Tüte zu stecken und sich dann auf den Boden zu legen, passiert ihr körperlich nichts. Nur einfach abhaken kann sie die Sache diesmal nicht. Wann immer sie ein Geräusch, ein Gesicht oder ein Geruch an die Banküberfälle erinnert, wird sie von diesem Tag an von Panik und Bildern überflutet – als würde sie die Situationen mit allen Sinneseindrücken erneut erleben. Menschen machen ihr Angst, der Anblick von Banknoten drückt ihr die Luft ab, beim Geräusch sich öffnender Kassenschubladen will sie in Deckung gehen. An Arbeit in der Bank ist nicht zu denken.

Was Margit Schmidt einen normalen Arbeitsalltag unmöglich macht, nennt sich Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Nach Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) sind in Deutschland pro Jahr rund 1,5 Millionen Erwachsene von einer PTBS betroffen. Besonders gefährdet sind Menschen, die immer wieder Grenzsituationen ausgesetzt sind: Angehörige der Polizei, der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks oder Soldaten der Bundeswehr. Aber auch vor anderen Bereichen der Arbeitswelt machen Gewalt oder Katastrophen nicht halt. Das Spektrum reicht von der Bedrohung durch frustrierte Besucher im Kaufhaus über den tätlichen Angriff durch Kunden in Jobcentern bis hin zu Selbsttötungen im Zugverkehr. Und auch wenn extreme Ereignisse an vielen Arbeitsplätzen nicht zum Berufsalltag gehören, tragen Beschäftigte in unterschiedlichsten Bereichen ein erhöhtes Risiko, traumatisierende Dinge erleben zu müssen – in der Pflege, dem Einzelhandel, der Verwaltung, dem Dienstleistungsbereich, dem Sicherheitsgewerbe oder dem Bankwesen.

Von traumatischem Stress spricht man, wenn mehrere Bedingungen zusammentreffen, erläutern die DGPPN-Experten: Die Betroffenen müssen als Opfer oder Zeuge eine bedrohliche Situation erleben, der sie nicht entrinnen können und die bei den meisten Menschen eine existenzielle Erschütterung hervorrufen würde. Dabei kann es sich zum Beispiel um einen schweren Unfall, eine Gewalttat oder auch um eine psychische Grausamkeit handeln. Die Reaktion des Opfers oder Zeugen ist von Angst, Panik und/oder Entsetzen geprägt. Es geht also um ein Ereignis und die unmittelbare Reaktion darauf. Wenn es sich um ein singuläres, umgrenztes Ereignis handelt, spricht man von einem Trauma Typ I, bei chronischen oder sich wiederholenden Ereignissen vom Typ II.

Als typische Traumafolgestörung gilt die PTBS, die Tage bis Wochen, gelegentlich aber auch erst Monate oder Jahre nach dem Ereignis auftreten kann. Eindringliche, sich aufdrängende Erinnerungen, Nachhallerinnerungen (Flashbacks), Alpträume, Anspannung und Schreckhaftigkeit prägen das Krankheitsbild, außerdem ein Vermeiden aller potenziell Angst auslösenden Reize bis zum völligen sozialen Rückzug, emotionale Labilität, Gereiztheit und Wutausbrüche sowie wiederkehrende Scham- oder Schuldgefühle. Nicht jedes Trauma führt mit gleicher Wahrscheinlichkeit zu einer PTBS: Eine von Menschen verursachte Traumatisierung wie etwa ein Überfall hat meist deutlich schlimmere Auswirkungen als zufällige traumatische Situationen wie Autounfälle oder Naturkatastrophen. Grausamkeiten, die von Menschen zugefügt wurden, lassen sich nicht mit dem bisherigen Weltmodell der Betroffenen vereinbaren. Es bleibt häufig ein tiefes Misstrauen anderen Menschen gegenüber. Oder es kommt dazu, dass die Betroffenen sich selbst abwerten, sich die Schuld an dem Erlebten geben und möglicherweise sogar Gefühle von Selbsthass entwickeln.

Lang andauernde und wiederholte Traumatisierung hat ebenfalls schwerwiegendere Folgen als einmalige, und auch Unterschiede zwischen den Betroffenen führen dazu, dass manche Menschen eher mit einer PTBS auf ein Trauma reagieren als andere. In der Regel ist also nicht das Trauma selbst entscheidend, sondern dessen Verarbeitung durch das betroffene Individuum. Eine PTBS entsteht weder aufgrund einer erhöhten psychischen Labilität, noch ist sie Ausdruck einer psychischen Erkrankung – auch psychisch gesunde und gefestigte Menschen können eine PTBS entwickeln. Sie stellt vielmehr einen Versuch des Organismus dar, eine mögliche Existenzbedrohung zu überstehen. Ganz klar ist aus Sicht der Ärzte eines: Werden Traumafolgestörungen nicht frühzeitig behandelt, besteht die Gefahr einer Chronifizierung. Gleichzeitig können weitere psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Suchterkrankungen auftreten.

Die Deutsche Bahn AG hat seit mehr als zehn Jahren ein Betreuungskonzept für Mitarbeiter, die Zeugen von Unfällen und Suiziden im Gleisbereich wurden. Dazu gehören eine intensive Nachbetreuung durch Psychologen und Vertrauensleute sowie die Vermittlung von Strategien zum Umgang mit psychisch belastenden Ereignissen schon in der Aus- und Fortbildung. Bei rund zehn Prozent der betroffenen Lokführer lässt sich die Entwicklung einer PTBS den Erfahrungen im Konzern zufolge jedoch nicht verhindern. Diese wird dann mithilfe von Spezialisten diagnostiziert und therapiert – in den meisten Fällen ambulant, bei einem geringen Teil der Betroffenen im Rahmen einer stationären Behandlung.

Weiteres Beispiel für schnelle Hilfe für Betroffene ist in Bremen die seit über zehn Jahren bestehende Kooperation zwischen der Polizei und der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW). Rund viermal täglich kommt es im deutschen Handel zu meldepflichtigen Raubüberfällen, das Raubüberfallrisiko ist bei Tankstellen, Drogeriemärkten und Kiosken besonders hoch. Nach einem Überfall wird die Polizei alarmiert, aber nicht selten vergisst der Unternehmer, auch die Berufsgenossenschaft zu informieren. Die Kooperation beinhaltet, dass die Polizei nach einem Überfall auf ein Handelsunternehmen die BGHW informiert, damit die Opfer zügig psychologische Hilfe und Beratung bekommen. Seit 2012 erfolgen die Meldungen sogar über eine von BGHW und Polizei gemeinsam entwickelte Onlineplattform.

Wie wichtig schnelle und kompetente Hilfe für Betroffene ist, erläutert Frank Jacobi. „Wie bei anderen psychischen Störungen auch sind für die PTBS deutlich erhöhte Arbeitsunfähigkeitszeiten und Rentenzugänge aufgrund geminderter Erwerbsfähigkeit zu verzeichnen“, sagt der Professor für Klinische Psychologie der Psychologischen Hochschule Berlin. Das gehe mit hohen Gesundheitskosten einher – direkten und indirekten. Traumatischer Stress und traumatische Belastungen seien mit weitaus höheren Folgekosten assoziiert als lediglich mit der PTBS-Behandlung, den AU-Zeiten oder der Berentung. Jacobi: „Auch wenn wir Menschen von unserer Anlage her grundsätzlich auf Anpassung an Stressoren ausgelegt sind und viele traumatische Erlebnisse von vielen Menschen auch gut verarbeitet werden können, stellen traumatischer Stress und traumatische Belastungen einen mächtigen Risikofaktor dar – für eine ungünstige psychische und auch allgemein für eine schlechte gesundheitliche Entwicklung.“

Margit Schmidt kann übrigens inzwischen wieder arbeiten. Allerdings meidet sie bis heute den öffentlichen Bereich ihrer Filiale mit dem Kundengeschehen, trotz monatelanger Therapie. Aber ihr Arbeitgeber hat ihr einen anderen Einsatzbereich angeboten, der weit genug von allen belastenden Triggern entfernt ist: zwei Etagen höher, im Innendienst.

Konzepte und Empfehlungen

Traumatische Ereignisse im Berufsleben sind ein immer häufiger auftretendes Phänomen. Gerade der Arbeitsschutz ist gefordert, sich diesem Problem zu stellen, konkrete Konzepte zu entwickeln und praxisrelevante Empfehlungen an zuständige Akteure auszusprechen. Die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) hat basierend auf einer bundesweiten schriftlichen Befragung von Vertretern betroffener Branchen, Interviews mit Experten und einer breiten Diskussion des Themas im Rahmen eines Workshops in der Broschüre „Herausforderung berufsbedingte Traumatisierung“ entsprechende Handlungsempfehlungen zusammengefasst. Diese Empfehlungen zum Umgang mit traumatischen Ereignissen richten sich unter anderem an Unternehmen und Organisationen, die innerhalb der eigenen Strukturen das Thema Trauma behandeln müssen.

Das „Aachener Modell zur Reduzierung von Bedrohungen und Übergriffen am Arbeitsplatz“ resultiert aus einer gemeinsamen und kooperativ gestalteten Aufsichts- und Präventionsarbeit der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen und des Polizeipräsidiums Aachen. Schwerpunkt sind Arbeitsplätze mit Publikumsverkehr. Das Modell basiert auf der Erkenntnis, dass den jeweiligen Formen der Gewalt am Arbeitsplatz mit geeigneten und verhältnismäßigen Mitteln begegnet werden muss. Das Aachener Modell greift die unterschiedlichen Facetten von Gewalt auf und strukturiert sie in vier verschiedenen Gefährdungsstufen, in die kritische Bereiche oder Arbeitsplätze eingeordnet werden können. Für jede der vier Gefährdungslagen wird dargestellt, wer in bedrohlichen Situationen handeln muss, wie bei einem unvorhergesehenen Ereignis zu reagieren ist und welche technischen und organisatorischen Voraussetzungen ein Betrieb bzw. eine Verwaltung im Vorfeld schaffen muss, um gewalttätige Ereignisse wirkungsvoll zu verhindern.